In der vergangenen Woche (13. bis 16. Juli 2023) fand in Lech am Arlberg die dritte Ausgabe des Literaricum Lech statt. In der herrlichen Landschaft der Vorarlberger Hochalpen treffen sich auf über 1750 Metern Höhe Literat:innen, Kritiker:innen und interessiertes Lesepublikum um sich wie jedes Jahr einem Klassiker der Weltliteratur an drei Festivaltagen aus verschiedenen Perspektiven zu nähern. Nach eigenem Motto wird Bildung und Unterhaltung auf hohem Niveau geboten. Das kann ich uneingeschränkt bestätigen. Eingeladen von Lech Zürs Torismus und bestens umsorgt von den Mitarbeitern des Burg Hotel in Oberlech, konnte ich drei Tage lang interessante und hochkarätige Veranstaltungen rund um Janes Austens Klassiker Stolz und Vorurteil besuchen, mit den Autor:innen und Pressekolleg:innen sprechen und tolle Leute kennenlernen. Das Wetter spielte auch mit, nach anfänglichem Regen strahlte die Sonne und verbreitete richtiges Feriengefühl. Lediglich meine Anreise war durch die Unwetter in Süddeutschland am Vorabend eine wirkliche Herausforderung, klappte aber Dank Sammeltaxi von Ulm nach Bregenz dann doch erstaunlich gut.
Das Literaricum
Seit 1997 findet im schicken Vorarlberger Wintersportort Lech am Arlberg jedes Jahr im September ein hochkarätiges geisteswissenschaftliches Ereignis statt. Das Philosophicum Lech bietet “Nachdenken auf höchstem Niveau – 1500 Meter über dem Meer”, mit enormem Publikumszuspruch. Initiiert von Michael Köhlmeier und Raoul Schrott und kuratiert von Nicola Steiner, soll nun ein ähnlich erfolgreiches Literaturevent etabliert werden. Idee und Umsetzung sind großartig, die etwas exklusive Lage von Oberlech verhindert bis jetzt den ganz großen Publikumszustrom. Das könnte sich in den nächsten Jahren ändern, da eine teilweise Verlegung nach „unten“ ins Dorfzentrum von Lech am Arlberg, in die noch zu eröffnenden Lechwelten (siehe Teil 2 dieses Berichtes) angedacht ist. Verdient hätte es dieses anregende, bereichernde Literaturfest auf jeden Fall.
Der diesjährige Klassiker: Stolz und vorurteil von Jane Austen
Stolz und Vorurteil (1813) von Jane Austen ist einer der beliebtesten Klassiker überhaupt. Weltweit wurde er über 20 Millionen Mal verkauft, seine Verfilmungen wurden zu Kassenschlagern. Die Liebesgeschichte mit Happy Ende ist gleichzeitig eine zeitgenössische Studie der englischen Gesellschaft und besitzt einen wunderbaren, bissigen Witz. Dabei hat und hatte Jane Austen (1775-1817) durchaus nicht nur Bewunderer. Charlotte Brontë und Mark Twain hatten für das Werk Jane Austens nur Verachtung übrig. Beim Literaricum Lech 2023 aber waren vorwiegend Bewunderer versammelt. „Ich weiß auch nicht, was Mark Twain da gegessen hat“, meinte Alice Schwarzer zu dessen herablassenden Äußerungen zu Austens Werk bei der das eigentliche Literaricum abschließenden Veranstaltung, wo die deutsche Journalistin und Publizistin, Gründerin und Herausgeberin der Frauenzeitschrift Emma und bekannte Feministin aus ihrer Autobiografie las. (siehe Teil 2) Gerade in neuerer Zeit macht Alice Schwarzer mit mehr als fragwürdigen Äußerungen von sich reden. Hier konnte man ihr in Sachen Jane Austen einmal vorbehaltlos zustimmen. Alles andere als flache Kitschliteratur findet man bei ihr – auch wenn der oberflächliche Plot darauf hinzuweisen scheint.
Eröffnungsrede von Denis Scheck
Auch Eröffnungsredner Denis Scheck bekannte sich zu seiner Jane Austen-Liebe. Auf bekannt launige, unterhaltsame Art kam auch er auf Mark Twain zu sprechen, der für ihn auf seine Art genauso genial sei wie Austen. „Im literaturkritischen Selbstgespräch mit mir“ wollte er versuchen „in diesem Konflikt zu vermitteln“.
Schon ein wenig ein Snob sei Jane Austen gewesen, zum Beispiel in der völligen Ignoranz Dialekten gegenüber. Stets reden sämtliche Figuren in ihren Büchern reinstes Oxford-Englisch. Die Anfänge ihrer Romane wären wahre „Immobilienpornos“, bei denen die Figuren stets wie mit einer Bankauskunft eingeführt würden. Wortwitzig-brillante Dialoge und ein reiches Tableau an Nebenfiguren bescheinigte Scheck der Autorin allerdings. Und ein völliges Fehlen von jeder Form von Religion. Was bei einer Pfarrestochter zumindest ein wenig verwundert. „Die bedeutendste Autorin des 19. Jahrhunderts schrieb – heimlich“, so Scheck. Und stellte fest, dass außer einer nicht sehr vorteilhaften Zeichnung ihrer Schwester Cassandra kein einziges Porträt von Jane Austen existiert.
“The person, be it gentleman or lady, who has not pleasure in a good novel, must be intolerably stupid”, konstatierte Jane Austen. Und tatsächlich macht die Lektüre ihrer Werke große Freude. Doch helfen sie, hilft die Literatur allgemein ihren Leser:innen? Denis Scheck meinte: eindeutig ja, auch wenn er erst noch einen Autoren als Negativbeispiel anführte, und zwar den seit 1985 bis zu seinem Tod 2006 in Turkmenistan extrem autokratisch herrschenden Saparmyrat Nyýazow, Turkmembaschi, der seine Untertanen zum Lesen seines Buchs „Ruhnama“ regelrecht „verdonnerte“. Austens Werke aber hälfen tatsächlich – und zwar gegen Liebeskummer. Sie spenden Trost und Komik.
Ist Jane Austen unpolitisch?
Aber Austen mache ihn auch wütend, betonte Scheck. Geschichte und Politik blieben bei ihr scheinbar ausgespart. Weder die französische Revolution noch Napoleon, weder die Säkularisation noch die akute Bedrohung des englischen Empire kommen in ihren Texten vor. Und doch ist sie für ihn, er bemühte den Vergleich mit Franz Kafka, insoweit politisch, als sie wie dieser ihre Leser:innen in ihrem Wesen und ihrer Wahrnehmung so zu verändern vermöge, „daß wir nach der Lektüre Austens unsere Zeit anders sehen.“ Zum Schluss schlug er noch einen Bogen zu einem anderen, von ihm verehrten Autor, Theodor Fontane, den der Literaturwissenschaftler Peter Demetz schon 1964 als “der einzige deutsche Bundesgenosse Jane Austens” bezeichnete.
Eine wegen des Unterhaltungstalents von Denis Scheck kurzweilige Rede zum Literaricum Lech 2023 mit vielleicht ein wenig zu vielen Zitaten in Originalsprache.
Der Abend klang auf der herrlichen Panoramaterrasse des Hotels Sonnenburg, das Veranstaltungsort war, aus. Der große, helle Saal mit Blick auf die Berge bot eine perfekte Umgebung der Veranstaltungen. Vorher war aber ein langer Weg zu bewältigen. Durch ellenlange, unterirdische Gänge gelangte man vom Hoteleingang zum 50 Höhenmeter (20 Stockwerke!) tiefer gelegenen Konferenzraum. 3 bis 4 Mal am Tag kam man da auf den einen oder anderen Wanderkilometer.
Der erste Tag
Am nächsten Morgen las der Schauspieler Thomas Sarbacher gewohnt lebendig und ausdrucksstark 80 Minuten vom Beginn von Stolz und Vorurteil in der Übersetzung von Andrea Ott vor. Spätestens da konnte man sich vom Witz, von der literarischen Qualität und der genauen Beobachtungsgabe von Jane Austen überzeugen. Ein ganz wunderbarer Auftakt zum Literaricum Lech 2023!
In der nächsten Veranstaltung sprach Nicola Steiner mit der 1978 geborenen Publizistin, Autorin, Kulturwissenschaftlerin und Dokumentarfilmemacherin Sarah Diehl über deren aktuelle Bücher Die Uhr, die nicht tickt und Die Freiheit, allein zu sein. Darin betont Diehl den Unterschied zwischen Alleinsein bzw. auch Einsamkeit, die man gestalten und evtl. auch freiwillig wählen kann, und sozialer Isolation, die meist erzwungen ist.
„Wenn ich allein bin, ist die ganze Welt bei mir.“ Gemäß diesem Motto reist die Autorin häufig allein und erfährt gerade dadurch oft eine große Verbundenheit mit der Welt. Gerade Frauen möchte sie die Angst vor dem Alleinsein nehmen, sie zu Unabhängigkeit ermuntern. Unbezahlte Care-Arbeit in der Kleinfamilie, Selbstwertgefühl und Entscheidungsfreiheit, Frauen als Kitt für Soziales und Abkoppelung von Fürsorglichkeit vom Geschlecht sind Themen die angesprochen wurden, ein Feminismus, von dem auch Männer profitieren, das Ziel.
Ich durfte mit Sarah Diehl über all dies sprechen. Das ausführliche Interview erscheint hier demnächst.
Vom Übersetzen von Klassikern
Zum „biologischen Tiefpunkt“ um 15 Uhr traten Austen-Übersetzerin Andrea Ott und Manesse Verleger Dr. Horst Lauinger auf die Bühne, um über das Übersetzen zu sprechen. Sie taten das so unterhaltsam und interessant, dass dennoch keinerlei Müdigkeit aufkam. Andrea Ott schätzt an Jane Austen vor allem ihren Realismus, die Beschäftigung mit „Menschen wie du und ich“, ihren tiefen Blick in das Innenleben ihrer Protagonist:innen und ihren Humor. Die Beschreibung der Figuren erfolgt bei ihr vor allem in wörtlicher Rede, weshalb man fast von einem „dramatischen Roman“ sprechen kann. Und Austen sei auch mutig, greife auch vermeintlich unangreifbare Menschen an, z.B. Geistliche und hochgestellte Persönlichkeiten wie Lady Catherine, die furchtbar unsympathisch dargestellt wird. In ihrer Betrachtung der Geschlechterrollen sei sie durchaus revolutionär. Und im Gebrauch der erlebten Rede geradezu eine Pionierin.
Bei einem Punkt konnten sich Lauinger und Ott nicht ganz einigen. Ersterer zitierte Virginia Woolf, die Austen ein „zärtliches Herz“ zuschrieb, Ott bestand auf einer gewissen „Boshaftigkeit“ bei ihr, zumindest einigen Figuren gegenüber. Beide waren sich aber einig, was den besonderen Humor der Autorin betrifft und laut Ott das Arbeiten mit „ausgefahrener Humorantenne“ erfordere. Diese Ironie kann beispielsweise durch die Unangemessenheit der verwendeten Sprache entstehen oder dadurch, dass sie Begriffe zusammenbringt, die nicht zueinander passen. Ein passendes Beispiel sei „Friedfertigkeit einbläuen“. Überhaupt lebte das Gespräch zwischen Ott und Lauinger durch die vielen interessanten Beispiele, die gebracht wurden.
Von der schnellen Alterung von Übersetzungen
Spannend war auch, über die vielbeklagte schnellere Alterung von Übersetzungen gegenüber den Originalen zu hören. Oft läge das laut Ott auch an einer falschen Erfurcht gegenüber den Klassikern. Lauinger erzählte ein wenig aus der Übersetzungsgeschichte und davon, dass früher Übersetzungen vor allem „klassisch klingen“ mussten, „rhetorische Unterfütterung“stattfand. Manchmal gab es sogar gekürzte Übersetzungen. Später fand ein Paradigmenwechsel statt, heute sollen Übersetzungen möglichst nah am Original bleiben. Wichtig ist für Andrea Ott dabei die Wirkungsäquivalenz, d.h. der Text soll beim Leser und der Leserin der Übersetzung die gleiche Wirkung auslösen wie das Original. Immer wieder müsse man Befremdlichkeiten durch über die Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte veränderte Grammatik, Satzbau oder den Bedeutungswandel von Worten ausgleichen und sich immer vor Augen halten: Was wollte die Autorin aussagen?
Wichtig ist ihr dabei immer die leichte Lesbarkeit. Und ein Satz stimme, wenn sich beim laut Vorlesen die passende Mimik von selbst einstelle. Übersetzungen gerfolgen, wie Lauinger anmerkte, von einer Sprache in die andere, aber auch aus einer Zeit in eine andere. Deshalb müsse sich der veröffentlichende Verlag immer die Frage stellen: Welche Annotationen sind nötig? Das ändere sich mit der Zeit. Zum Schluss wurde noch eine Kritik von Katharina Hagena zitierte: Übersetzungen seien wie ein Tuch über einer Skulptur. Und Otts Übersetzungen von Jane Austen (in der Kritik ging es um Northanger Abbey) sei wie aus Mousseline, durchscheinend, anschmiegsam, auch wenn Faltenwurf unvermeidbar ist. Ein wunderbares Lob!
Die Veranstaltung war einfach großartig: unterhaltsam, lehrreich und interessant bis zum Ende. Im Anschluss durfte ich Andrea Ott und Herrn Dr. Lauinger noch ein paar Fragen zum jüngst veröffentlichten Roman Maud Martha von Gwendolyn Brooks stellen. Das daraus entstandene Interview könnt ihr demnächst hier nachlesen. Danke auch an Enja Jans vom moka Magazin für die Zusammenarbeit.
Ein Gespräch zwischen Martin Mosebach und michael Köhlmeier
Die letzte Veranstaltung des ersten Tages beim Literaricum Lech 2023 war ein Gespräch zwischen Martin Mosebach und Michael Köhlmeier, die laut eigenem Bekunden zur gleichen Zeit „seelig theorielos“ mit dem Schreiben von Romanen begonnen haben. Es ging um eben dieses Schreiben von Romanen, um den Literaturwissenschaftler Erich Auerbach (1892-1957) und sein Hauptwerk Mimesis, wo als Nukleus des modernen Romans die Verknüpfung eines individuelles Schicksal mit dem Schicksal einer Epoche und der Welt benannt wird, um Stil und Kontinuitäten, um die Bedeutung von Figuren im Entstehungsprozess des Romans, um Philosophie und Georges Simenon. Außerdem ging es natürlich auch um Martin Mosebachs sehr orthodoxen Katholizismus.
Leider ging es sehr wenig um Jane Austen und ihr Werk, zumindest ist mir nicht gelungen, da einen Bogen zu schlagen. Den es sicher gegeben hätte. Aber man spielte sich die Bälle zu, Michael Köhlmeier erwähnte nochmal den Georg Büchner Preis von 2007, den sein Kollege wegen „stilistischer Pracht“, „humoristischem Geschichtsbewusstsein“ und „urwüchsigre Erzählfreude“ erhalten hat. Kostproben davon erhielt das Publikum durch zwei längere Lesepassagen aus Mosebachs aktuellem Roman Taube und Wildente. Ich muss zugeben, dass mir dieses Gespräch nicht viel gegeben hat, ich auch keine Freundin der Literatur Mosebachs oder seines Konservatismus bin. Aber die beiden Herren harmonierten prächtig, Michael Köhlmeier hat unbestritten viel Charme und so ende ich mit einem Zitat aus dem Vorgelesenen: „Aus ihr nicht ganz deutlichen Gründen fanden die meisten das komisch und wer Gelächter erntet, hat Recht.“
Der Abend klang mit einem Literatendinner aus, bei dem alle Beteiligten und auch unser einer sich bei köstlicher Haute Cuisine noch prächtig unterhalten konnte.
Teil 2 zum Literaricum Lech 2023 folgt morgen.
Und auch 2022 fand ein ganz wunderbares Literaricum zu Bartleby, der Schreiber von Herman Melville statt.