Der Samstag (15. Juli 2023) beim Literaricum Lech begann – mittlerweile schon eine Tradition – bei bestem Wetter. Strahlend blauer Himmel hieß die Literaturfreundinnen und -freunde auf der 2000m hoch in blühenden Bergwiesen gelegenen Kriegeralpe willkommen. Eine sportliche Wanderung oder der bequeme Sessellift führten zur Antike auf den Bergen. Raoul Schrott präsentierte die Theogonie von Hesiod. Dieser um 700 v. Chr. entstandene und somit neben Homers Ilias und Odyssee zu den ältesten Quellen der griechischen Mythologie gehörende Text erzählt von der Entstehung der Welt, der Menschen, den Göttern und Göttinnen. Wobei Schrott gleich zu Beginn darauf hinwies, dass wir es mit einem sehr misogynen Text zu tun haben, auch wenn er mit den Musen beginnt, die dem Dichter den berühmten Lorbeerzweig überreichen, der den Poeta laureatus auszeichnet, welcher am kommenden Tag ja auch hier in Lech zum ersten Mal gekürt werden sollte.
Schrott umriss kurz die Zeit Hesiods. Die Wirtschaft in der Mittelmeerregion war um 1200 v. Chr. nach mehreren Dürrejahren zusammengebrochen und infolgedessen auch die Hochkultur der Hethiter mehr und mehr verschwunden. Zahlreiche Menschen wanderten aus Kleinasien nach Griechenland aus. Man vermutet, dass auch Hesiod eine hethitische Mutter und einen griechischen Vater hatte. Die Kulturen vermischten sich.
Die heigligen Berge
Der an der türkisch-syrischen Grenze gelegene Berg Kasion (heute Keldağ, bei den Hethitern Ḫazzi, im alten Testament Zaphon) galt als der Sitz der männlichen Götter, der gegenüber liegende Berg (der Musa Dağı?), beherbergte die höchste Göttin, zuständig für das Ethos einer Gesellschaft, ihre Gesetze, Gebräuche und die Rechtsprechung. Hesiod transferierte nun diesen Göttersitz und seine Theogonie zum Helikon, einem Berg in seiner Heimat, der griechischen Landschaft Böotien. Der Helikon galt fortan in der Antike als Sitz der Musen, der Schutzgöttinnen der Künste und Töchter des Zeus, die von den Künstlern angerufen wurden.
Das Tal der Musen
Das Tal der Musen zu seinen Füßen wurde für musische Wettkämpfe genutzt, es entstand ein Altar und ein tiefer Brunnen, die heilige Quelle der Hippokrene – mehr Zugang zur Unterwelt als Wasserspender. Von seiner Reise dorthin erzählte Schrott sehr humorig. Zwei Jahrhunderte später wurden die Musen von Apollon als Musenführer quasi enttrohnt. Ihre Macht als Göttinnen ging der frauenfeindlichen Gesellschaft des antiken Griechenlands wohl zu weit. Darauf folgte der Niedergang der Musen, die im Mittelalter ganz verdrängt wurden, noch einmal kurz in der Renaissance eine Bedeutung hatten, dann aber im Laufe der Jahrhunderte immer mehr zu menschlichen „femmes fatales“ abgestiegen wären, so Schrott.
Er betonte die Innovation Hesiods, der, ungewöhnlich zu der Zeit, als man die eigene Identität aus dem Kollektiv bezog, „Ich“ sagte und den Dichter als Sprachrohr der Götter etablierte. Außerdem ist der Text Hesiods erst das zweite Zeugnis der griechischen Schrift, die von von den Phöniziern übernommen und durch Vokale ergänzt wurde. Wie immer las Raoul Schrott neben Passagen aus der Übersetzung auch originalsprachliche Stellen vor.
Bei erfrischenden Getränken, vorbeieilenden Wanderern und einem kühlenden Lüftchen in der herrlichen Bergwelt den zeitlich so weit entfernten Texten der Antike und den Erläuterungen Raoul Schrotts zu lauschen, ist immer ein gewisser, dem eigentlichen Literaricum etwas entrückter Höhepunkt des Literaturfests.
Mon chéri und unsere demolierten Seelen
Am Nachmittag ging es in Oberlech weiter mit der Preisträgerin des Österreichischen Buchpreises 2022, Verena Roßbacher. Deren Wurzeln liegen gar nicht weit entfernt. Geboren wurde sie 1979 im Vorarlberger Bludenz, wuchs in der Schweiz auf und lebt nun in Berlin. Nicola Steiners erste Frage war dann auch die nach der Heimat. Da auch die Protagonistin des neuesten Romans von Roßbacher Mon chéri und unsere demolierten Seelen, Charly Benz, keine wirkliche Heimat besitzt. Sehr bald kam die Sprache dann auf inhaltliche Parallelen zum Gespräch mit Sarah Diehl am Tag davor.
Auch die sehr eigenwillige Charly Benz lebt in einer Art alternativen Familie, hat eine tiefe Bindung zu Herrn Schabowski, der wegen ihrer Postangst deren Briefe professionell öffnet, und irgendwann eine Beziehung zu gleich drei Männern. Obwohl sie eigentlich ein erprobter Langzeitsingle ist. Charly Benz war als Figur auch der Keim für diesen Roman, der sich (so Nicola Steiner) um Liebe, Freundschaft, Familie, Loyalität, Liebes- und Lebensmodelle, Ängste, Scheitern und das Sterben dreht.
Weiblicher Humor
Mit großem darstellerischen Talent las Verena Roßbacher zum großen Vergnügen des Publikums aus ihrem Roman, der auch ungemein lustig ist. Ein Urteil, über das sich die Autorin freut und das sie als großes Kompliment erachtet. Humor und Trauer liegen aber wie so oft nah beieinander. Zum Titel ihrers Romans befragt, gesteht sie, dass ihr eigentlich ein anderer vorgeschwebt habe. Schabowski und ich oder aber Hotel Astoria, nach dem Hotel in Bad Gastein, das Inspiration für das Hotel im Roman war, wären ihre erste Wahl gewesen.
Ein Tipp von Verena Roßbacher für wanderlustige Familien: Vorlesen. Denn Kinder haben eine enorme Kondition, aber ihnen wird schnell langweilig. Sie selbst kommt aus einer sehr lesefreudigen Familie. Und sieht auch eine tiefe Verbindung zwischen dem Lesen und dem eigenen Schreiben.
Alice Schwarzer im Gespräch mit Katja Gasser
Am Abend ging es dann weiter mit einem Gespräch zwischen der österreichischen Redakteurin Katja Gasser und der 1942 in Wuppertal geborenen Journalistin und Feministin Alice Schwarzer. Die stets meinungsfreudige Schwarzer hat gerade auch in jüngerer Zeit Ansichten und Positionen vertreten, die eher fragwürdig sind, etwa jüngst zum russischen Angriffskrieg, aber auch zu den Themen Transidentität und Islam. Nach einer kurzen Einführung durch die souverän auch diese Auseinandersetzungen ansprechende Katja Gasser las Schwarzer einige Passagen aus ihrer Autobiografie, die aus Anlass ihres 80. Geburtstag als Doppelband Mein Leben erschienen ist.
Sie erzählte von den Großeltern, bei denen sie aufwuchs und die sie als Kind schon sehr ernst nahmen. Vom sehr mütterlichen Großvater, der politisierten Großmutter und deren freier Erziehung, die für ihren bewussten Blick auf die Gesellschaft und das Geschlechterverhältnis prägend war. Es ging um die Nachkriegsgeneration, „normale“ Verhältnisse, Wahlfreiheit, die aktuell drohende Geschichtslosigkeit auch in Bezug auf den Feminismus und (leider) dann auch noch über das in Deutschland geplante Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag, das für Schwarzer das berühmte rote Tuch zu sein scheint (und damit beim Publikum viel Anklang fand). Insgesamt zeigte sich Alice Schwarzer streitlustig und meinungsstark, aber auch überraschend heiter und sympathisch.
Sie schloss mit dem letzten Abschnitt ihres Buchs, „Ich habe einen Traum.“ Sehr lobenswert, dass das Gespräch am Ende für das Publikum geöffnet wurde. Dadurch gelang zum Schluss auch noch der Bogen zu Jane Austen. Eine Zuhörerin fragte zu Schwarzers Position zu Austen, die diese bewundert und ihr eine große Hellsichtigkeit bescheinigte.
Führung duch Dorfhus und Lechwelten
Am Sonntagmorgen hatten wir die Gelegenheit, geführt durch Bürgermeister Gerhard Lucian und Tourismusdirektor Hermann Fercher, einen Blick in die zukünftigen Lechwelten und das Dorfhus zu werfen. „An einem Kraftplatz zwischen Fluss und Kirche“, direkt an der Talstation der Lech-Oberlech-Bergbahn entsteht hier der neue Dorfmittelpunkt.
Im künftigen „Dorfhus“ werden sowohl die Gemeindebüros als auch die Lech Zürs Tourismus GmbH untergebracht werden. Ebenfalls findet hier die neue Dorfbücherei ihre Heimat und soll ein Ort der Begegnung und ein Platz zum Verweilen werden. Sowohl Gäste als auch Einwohner und Angestellte der Gemeinde Lech sollen sich im Dorfhus wohlfühlen. Die Fassade setzt auf Glas und Holz und bildet ein Ensemble mit den benachbarten Lechwelten. In diesem Kulturhaus entstehen flexibel nutzbare Räume für Tagungen, Konzerte und Events aller Art. Der große Saal fasst bis zu zu 650 Besucher, lässt sich bei Bedarf aber in zwei oder drei kleinere Säle teilen.
Nachhaltiges Konzept
Die Lechwelten werden insbesondere ein Ort der Musikwerden. Proberäumen für die Trachtenkapelle und die Musikschule Lech sind vorgesehen. Panoramafenster und eine Dachterrasse öffnen den Blick nach draußen, auf Dorfkirche und den Hausberg Omeshorn. Ab Juni 2024 sollen die Lechwelten öffnen und sind dann vielleicht der zukünftige Austragungsort auch des Literaricums. Besonderer Wert wurde bei Planung und Bau auf Nachhaltigkeit gelegt. Über 90 Prozent der beteiligten Firmen stammen aus Vorarlberg und 100 Prozent des Baumaterials aus dem europäischen Raum . Beheizt wird das Gebäude vollständig durch die Lecher Biomasseheizwerke, die fast das ganze Dorf über ein Fernwärmenetz versorgen. Zwei große, verbundene Tiefgaragen sollen den Verkehr von der Straße wegleiten.
Ein überzeugendes, aber für ein Dorf mit gerade mal um die 1600 Einwohner atemberaubendes Konzept, das sich nur mit hohen Investitionen, die durch die Tourismuseinnahmen des Nobelskiorts möglich sind, verwirklichen lässt. Lech am Arlberg ist seiner Zeit damit sicher wieder voraus, indem es verstärkt auf Ganzjahrestourismus setzt und darin investiert. Die neuen Veranstaltungsräume und Konzepte wie das bewährte Philosophicum und das relativ neue Literaricum werden dabei sicher helfen.
Poeta laureatus 2023 – Michael Krüger
Zum ersten Mal wurde beim Literaricum Lech 2023 der Poeta laureatus gekürt, der „lorbeergekrönte Dichter“ – wir haben am Samstag auf der Kriegeralpe über die Entstehung dieses Ehrentitels gehört. Petrarca war vielleicht der berühmteste aller Poetae laureati, Martin Opitz der erste für deutschsprachige Dichtungen. Mit einem Preisgeld von 15.000 Euro ausgezeichnet, soll der gekürte Poeta laureatus einmal im Monat ein Gedicht verfassen, das etwas über die Lage der Welt aussagt. In einer Medienpartnerschaft mit ORF, Der Standard, SWR und Die Welt werden die Gedichte dort veröffentlicht.
Die Gedichte
2023 heißt der Ausgezeichnete Michael Krüger, Dichter, Schriftsteller und ehemaliger Verleger der Hanser Verlage, der in diesem Dezember seinen 80. Geburtstag feiert. Bei einer feierlichen, aber sehr gemütlichen Veranstaltung im Hotel Kristiania in Lech wurde Krüger nach Ansprachen von Raoul Schrott und Tourismusdirektor Hermann Fercher und einer Laudatio von Alexander Wasner, Journalist und Redakteur beim Südwestrundfunk in Mainz, gekürt und las drei seiner seit Februar 2023 erscheinenden Gedichte vor. Nachzuhören sind sie beispielsweise auf der Website des SWR. Dort sind auch die Gespräche zu finden, die Alexander Wasner mit Krüger über die jeweiligen Monatsgedichte geführt hat. Menschenfreundliche Melancholie zeichneten sie aus, die Themen umfassten Natur, Krieg, Religion Hoffnung, Verständnis und Unverständnis. Sehr zu empfehlen!
In der Jurybegründung heißt es:
„Michael Krüger hat die poetische Intelligenz, die Verständlichkeit, den Humor und nicht zu vergessen die Gravitas, um das politische Gedicht in unserer Zeit wieder breit einzuführen: Das zeigen auch seine letzten zwei Gedichtbände, in denen jedes Gedicht einen solchen Zeitkommentar abgibt, wie wir es uns für unseren „Poeta Laureatus“ und seine Gedichte „zur Lage“ vorstellen.“
In seiner Dankesrede sprach Michael Krüger über den Dichter Johann Christian Günther, der vor genau 300 Jahren starb. Im jungen Alter von 21 Jahren wurde dieser ebenfalls Poeta laureatus. Für Krüger war er ein Neuerer, hat laut ihm einige der schönsten Liebesgedichte überhaupt geschrieben. Dennoch landete er im Schuldturm, elend und alkoholkrank. Die Dichtung bezeichnete Krüger als „Antidot gegen fast alles, was unser Leben so trist und banal macht.“ Und empfiehlt, vor jeder größeren Versammlung ein Gedicht vorzutragen, weil sich dadurch die verwendete Sprache ändere und vielleicht danach ein anderer Ton herrsche. „Jedem guten Gedicht gelingt es, die Welt für Augenblicke oder auch für länger zu verändern“, so Krüger.
Eine gelungene Veranstaltung
Das war das Literaricum Lech im Jahr 2023. Vielleicht ein letztes Mal in diesem Rahmen im hochgelegenen Oberlech, in dem die exklusiven Hotels Sonnenburg und Burg Hotel die Veranstaltung ausrichteten und die Gäste aufs wunderbarste beherbergten. Die hohen Preise und die Gondelbahn, die man am Abend nicht verpassen durfte, falls man unten im Dorf untergebracht war, schränkte die Besucher:innenzahl vielleicht ein. Sollte die Veranstaltung im nächsten Jahr tatsächlich in den Lechwelten stattfinden, bietet dies eine deutlich größere Zahl an unterschiedlichen Unterkunftsmöglichkeiten, Cafés, Restaurants und Einkaufsmöglichkeiten. Alles was es „oben“ im exklusiven Oberlech nicht gibt. Ein wenig wird die Ruhe und die wunderbare Lage fehlen, aber wenn sich dadurch neue Publikumsgruppen gewinnen lassen, ist das absolut zu begrüßen.
Ich bin gespannt, welcher Klassiker es 2024 zum Literaricum Lech schaffen wird, die Ausgabe 2023 war für mich ein voller Erfolg. Einzig die in manchen Gesprächen fehlende oder nur rudimentäre Anbindung an Stolz und Vorurteil habe ich etwas bedauert (zum Beispiel im Gespräch Mosebach – Köhlmeier). Auch eine noch größere Öffnung zum Publikum, wie es zum Beispiel in den Gesprächen von Ott-Lauinger oder auch bei Alice Schwarzer geschah, wäre zu begrüßen. Konzept, Rahmen und Durchführung der Veranstaltung sind davon abgesehen großartig und ich kann allen Literaturfreunden nur empfehlen, sich den 18. bis 21. Juli 2024 vorzumerken, denn dann findet das 4. Literaricum Lech statt.
Beitragsbild: Literaricum Lech 2023 (c) Dietmar Hurnaus – (c) Lech Zürs Tourismus by Dietmar Hurnaus
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Das Werk von Michael Krüger erscheint bei Suhrkamp
Liebe Petra,
vielen Dank für deine schönen und ausführlichen Berichte über das Literaricum Lech. So gibst du einen tollen Einblick in die Veranstaltung und lässt mich ein Stück weit daran teilnehmen.
Viele Grüße, Claudia
Sehr gerne, liebe Claudia. Liebe Grüße!