Ein Debütroman, ein unabhängiger Kleinverlag, ein Autor, der gleichzeitig Verleger, Theatermacher, Schauspieler und Gabelstaplerfahrer ist und aus einer Arbeiterfamilie mit Migrationserfahrung stammt – der Preis der Leipziger Buchmesse ging 2023 an Dinçer Güçyeter für seinen autobiografisch gefärbten Roman Unser Deutschlandmärchen. Auch wenn es darin um Güçyeters Familie und vor allem die Frauen in ihr geht, handelt es sich nicht um einen klassischen Familienroman. Der Lyriker Güçyeter, der 2022 für seinen Gedichtband Mein Prinz, ich bin das Ghetto den Peter-Huchel-Preis verliehen bekommen hat, webt ein äußerst vielfältiges Gewebe, in dem der zentrale Mutter-Sohn-Dialog zu einer Collage aus Gedichten, Prosatexten, Chören und Theaterszenen erweitert wird.
Fatma
Die Mutter, das ist Fatma aus Anatolien, die Mitte der 1960er Jahre mit einem in Deutschland arbeitenden Mann verheiratet wird. Für sie, ihre Mutter Hanife und die Brüder ist das eine Chance, der Armut zu entgehen. Die Urgroßmutter, die Nomadin Ayse, verlor ihren Mann früh und musste erdulden, dass Ömer Bey sich ihrer „annahm“, um zu überleben. Frauenschicksale im Anatolien des frühen 20. Jahrhunderts. Da ist der Mann mit dem großen Kopf, der Fatma zur Frau will, sicher das kleinere Übel. Yılmaz ist allerdings alles andere als geschäftstüchtig, eher ein Träumer, der seine Arbeit aufgibt, um eine Kneipe zu eröffnen. Der seine Gäste immer wieder anschreiben lässt, der dadurch Schulden anhäuft.
Fatma arbeitet in Nettetal am Niederrhein, wohin es die Beiden verschlagen hat, nach der Schicht in der Fabrik noch auf dem Feld, beim Spargel, in den Erdbeeren. Das Geld reicht nicht vorne und nicht hinten. Aber dennoch beharrt Yılmaz auf seinen Plänen, seinem Integrationswillen, auf seiner Dankbarkeit dem Gastland gegenüber, auf dem Stolz, hier in Deutschland arbeiten zu können. Den Daheimgebliebenen gegenüber, bei den Urlauben in der Heimat, wird signalisiert, dass man es in der Fremde geschafft hat. Die Scham darüber, dass die Arbeit hart, der Lohn und die Anerkennung der Deutschen gering ist, wird verschwiegen.
Das Schweigen
Schweigen, ein zentrales Motiv der Nachkriegsrepublik. Die Deutschen schweigen über ihre Vergangenheit, die „Gastarbeiter“ über ihre Gegenwart, die Unterdrückung von eigenen Träumen und Bedürfnissen. Besonders den Frauen, die so oft „den Laden schmeißen“, sich um Einkommen, Haushalt, Kinder kümmern müssen und gleichzeitig der oft autoritären Männlichkeit ihrer Ehemänner unterworfen sind, die nicht darüber reden können, auch weil sie die fremde Sprache oft unzureichend sprechen, widmet Dinçer Güçyeter Unser Deutschlandmärchen. In seiner Preisrede nennt er es „eine Verbeugung vor allen Frauen“, aber auch vor „allen Menschen, die etwas bewegen wollen“.
Nach 14 langen Ehejahren wird Fatma endlich schwanger. Es ist der Sohn Dinçer, der sich nun immer wieder in die Monologe der Frauen, vor allem Fatmas einmischt. Hier wird die Migrationsgeschichte zu einem Text, der das Verhältnis der Kinder, der 2. und 3. Einwanderergeneration, zu ihren Eltern in den Fokus nimmt. Gräben, die sich auftun, zwischen den Älteren, die mit dem Verlust der Heimat, dem Neuanfang und dem herrschenden Rassismus kämpfen müssen, und den Jungen. Immer wieder enttäuschte Erwartungen, Scham, aber auch viel Nähe und Liebe. Güçyeters Arbeitereltern stehen den künstlerischen und lyrischen Ambitionen des Sohns oft ratlos gegenüber. Dieser muss dafür erst eine eigene Sprache finden, Nähe und Abgrenzung ausloten, Geschlechterrollen infrage stellen, Klassengrenzen überwinden.
Vielstimmig, amüsant und poetisch
Dinçer Güçyeter ist all das auf wunderbare Weise gelungen. Er hat seine ganz eigene, berührende, vom Rhythmus geleitete Sprache gefunden – in der Lyrik, aber auch wie in Unser Deutschlandmärchen in der Prosa. Vielstimmig, amüsant, sowohl poetisch als auch rau schreibt er eine so eigenwillige wie schön zu lesende Familien- und Migrationsgeschichte, in der auch die rassistischen Erfahrungen in Deutschland, die Anschläge von Mölln und Solingen, die NSU-Morde und die Tötungen von Hanau Eingang finden.
Ich habe viel zu lange gebraucht, bis ich den richtigen Moment für den Roman des von mir so geschätzten Dinçer Güçyeter gefunden habe. Nun habe ich nach dem Lesen auch noch die sehr gelungene Hörbuchfassung, gelesen von Sema Poyraz und Hasan H. Taşgın, gehört. Ich werde die von ihnen gesprochenen Stimmen von Fatma, von Hanife und auch von Dinçer so schnell nicht vergessen. Unser Deutschlandmärchen ist ein ganz wunderbares Buch, eines meiner liebsten dieses nun schon mehr als halb vergangenen Jahres. Den Preis der Leipziger Buchmesse hat es mehr als verdient.
Beitragsbild via Pixabay
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Dinçer Güçyeter – Unser Deutschlandmärchen
Mikrotext November 2022, 216 Seiten, Hardcover, 25,00 €
Danke schön für die Buchbesprechung. Ich denke auch das Schweigen und die Sprachlosigkeit sind die zentralen Motive in diesem Buch. Mit diesem Buch überwindet Dinçer Güçyeter die Sprachlosigkeit seiner Mutter und seine eigene Sprachlosigkeit, indem er Schriftsteller wird.