Ein Gespräch mit Manesse Verleger Dr. Horst Lauinger und Übersetzerin Andrea Ott zum einzigen Roman der ersten Schwarzen Pulitzerpreisträgerin Gwendolyn Brooks
Beim diesjährigen Literaricum in Lech am Arlberg drehte sich alles um den 1813 entstandenen Roman Stolz und Vorurteil von Jane Austen. Im Manesse Verlag erschien 2003 die viel gelobte Neuübersetzung von Andrea Ott. Auf der Bühne mit dem Verleger Dr. Horst Lauinger verriet Andrea Ott in einem sehr interessanten und kurzweiligen Gespräch einiges über die Schwierigkeiten beim Übersetzen eines 200 Jahre alten Textes. Im Anschluss durfte ich mich mit beiden über ein jüngst ebenfalls in der Übersetzung von Andrea Ott erschienenes Buch unterhalten, das mich persönlich sehr begeistert hat: Maud Martha von Gwendolyn Brooks.
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LiteraturReich: Der im März 2023 im Manesse Verlag veröffentlichte Roman Maud Martha von Gwendolyn Brooks ist eine Perle, die fürs deutsche Lesepublikum neu entdeckt worden ist, passend zu der sehr begrüßenswerten Tendenz in den Verlagen, ältere, lange Zeit nicht übersetzte Titel, oftmals von Schwarzen Autorinnen stammend, neu auf Deutsch zu veröffentlichen. Wie kam speziell dieser Titel von Gwendolyn Brooks zum Manesse Verlag?
Dr. Horst Lauinger: Ja, wie kam es dazu? Wenn man einen Klassiker-Verlag leitet, muss man beides im Blick haben: den Kern des Kanons, also zum Beispiel eine Jane Austen, aber darüber hinaus auch die Ränder des Kanons. Und es ist bei Manesse eine schöne Tradition, dass wir immer auch geschaut haben, wo es Weltliteratur gibt, die noch nicht kanonisiert worden ist, weil sie hierzulande eben nie die gebührende Beachtung gefunden hat.
Wir lesen sehr viel, veröffentlichen vieles von dem, was wir prüfen, natürlich nicht. Aber bei Gwendolyn Brooks stand für mich und eine Lektorin schon nach einer Viertelstunde Lektüre fest: Wir wollen diesen Roman machen. Da Gwendolyn Brooks noch nicht gemeinfrei ist und über eine englische Agentur an uns herangetragen wurde, mussten wir zuerst noch gegen zwei Konkurrenzverlage ein Bietergefecht gewinnen. Da konnten wir uns durchsetzen. Glücklicherweise. Das war einer der glücklichsten Tage des letzten Verlagsjahres für mich, als ich wusste: Wir haben Gwendolyn Brooks. Fast genauso glücklich war der Tag, als Andrea Ott sagte, sie will mir diesen Roman übersetzen. (Zu Andrea Ott gewandt:) Du konntest dir auch ein Bild davon machen. Und so haben wir es dann am Ende geschafft, diese erste schwarze Pulitzer-Preisträgerin mit ihrem einzigen Roman in deutscher Übersetzung bei Manesse zu verlegen.
LiteraturReich: Das führt zu meiner nächsten Frage: Gwendolyn Brooks war die erste Schwarze Pulitzer-Preisträgerin, sie wurde außerdem mit diversen anderen Auszeichnungen in den USA geehrt. Das ist ja eigentlich schon ein Gütesiegel. Wie kann man sich erklären, dass eine solche Autorin so lange in Deutschland unübersetzt geblieben ist?
Dr. Horst Lauinger: Also interessant in dem Zusammenhang ist, dass Gwendolyn Brooks damals noch nicht mal den Sprung über den Teich nach England geschafft hat. Letztes Jahr ist nämlich nicht nur die deutsche Erstübersetzung erschienen, sondern auch die erste britische Ausgabe der Autorin. Auch in England war sie eine Unbekannte. In den USA war sie immerhin so bekannt, dass sie nicht nur den Pulitzer-Preis verliehen bekommen hat, sondern zeitweise als eine der führenden Lyrikerinnen galt. Man hat aber mit der Harlem Renaissance, mit den Schwarzen Autoren, die man irgendwann wiederentdeckte, auch da wieder hauptsächlich zuerst mal auf die Männer geschaut. Es handelt sich nur um eine Vermutung, aber für eine Schwarze, eine Frau und dann auch noch eine Lyrikerin – war vielleicht die Erwartung nicht allzu groß, für einen anderen als den US-amerikanischen Markt Interesse zu erwecken.
LiteraturReich: Im sehr interessanten Nachwort von Daniel Schreiber habe ich gelesen, dass selbst das amerikanische Publikum mit der Zeit das Interesse an ihr verloren hat, weil die Autorin, von der zunächst eine eher sanfte Kritik an der Stellung der Schwarzen Frauen in den USA kam, sich später radikalisiert hätte und dass ihr das überwiegend weiße Literaturpublikum in den USA das übel genommen hat. Würden Sie sagen, das ist zutreffend oder ist das vielleicht nur eine Spekulation?
Dr. Horst Lauinger: Aus meiner Kenntnis? Ich gestehe, ich bin kein intimer Kenner dieser Zeit. Es gibt Interviews von Gwendolyn Brooks, in denen man merkt, wie sehr sie sich über diesen Pulitzer-Preis gefreut hat, dann aber doch nach und nach merkte, dass sie immer wieder als Alibi-Preisträgerin vorgeführt wurde – mit jenem typischen „white snobism“, so hat es F. Scott Fitzgerald mal bezeichnet, also dieser Herablassung der Weißen gegenüber einer Schwarzen, ihr gönnerhaft zu sagen, „wir zeichnen dich doch aus, Mädel.“ Wenn man über Jahrzehnte hinweg diese Herablassung erfahren hat, glaube ich, wird man irgendwann ein bisschen ungeschmeidig und will sich aus Selbstachtung einfach nicht mehr als Feigenblatt präsentieren lassen. Und ich glaube, sie hat sich zu Recht diesem Betrieb verweigert, der sie im Prinzip nur als Vorzeige-Schwarze auszeichnen wollte, sie aber nicht wirklich anerkannt hat, wie das einer weißen Lyrikerin widerfahren wäre. Das ist meine Vermutung.
LiteraturReich: Und das hat ihr das weiße Literaturestablishment vielleicht dann übelgenommen.
Dr. Horst Lauinger: Die Karawane zieht weiter und findet alsbald einen neuen Star. Der Literaturbetrieb ist letztlich auch ein Showbiz, gerade in den USA. Als sie im Jahr 2000 starb, war sie wieder eine ziemlich Unbekannte. Umso schöner, aber vor allem: umso wichtiger, eine Autorin dieses Ranges, die so fantastische Lyrik geschrieben hat, jetzt wiederzuentdecken. Und dieser Roman, ihr einziger? Ist ein ganz singuläres Stück Prosa. Ich habe in den vergangenen Jahrzehnten eine Menge Bücher für Manesse geprüft. „Maud Martha“ ist für mich die Entdeckung des Jahrzehnts.
LiteraturReich: Umso schöner ist es, dass der Roman nun in einer so gelungenen Übersetzung von Andrea Ott vorliegt. Gwendolyn Brooks hat ja auch eine Menge Humor. Wir haben heute beim Literaricum Lech über verschiedene Formen des Humors auch bei Jane Austen gesprochen. Sehen Sie da eine Verwandtschaft? Gibt es vielleicht einen bestimmten weiblichen Humor, der sich auch gegen Widerstände zur Wehr setzt?
Andrea Ott: Ja, natürlich ist der auch da. Und mir liegt das Humorige. Ich freue mich immer, wenn ich etwas entdecke, was witzig sein kann. Zum Beispiel dort, wo die Protagonistin unter großen Nöten eine Maus fängt, und es dauert, bis sie sie endlich hat. Dann aber stellt sie sich vor: Wenn sie die Maus jetzt umbringt, die ja zu Hause Familie hat, kleine Kinder, dann sind diese Mäusekinder allein, werden nicht gefüttert usw. Am Ende lässt sie sie wieder laufen. Das ist schon sehr humorig. Andererseits ist da auch das Mitgefühl mit dieser armseligen Kreatur, die auf ihre Weise genauso arm dran ist wie sie selbst. Das ist so vielschichtig, das hat mir sehr gut gefallen.
LiteraturReich: Da ist aber auch so ein widerständiger Humor. Sie ist ja wirklich arm dran, wird von ihrem Mann betrogen, als sie ist schwanger ist, lebt in Armut etc. Aber sie verliert ihren Humor nicht. Und da sehe ich eine Ähnlichkeit zu Jane Austen, die sich ja auch trotz der teilweise ganz bedrückenden Verhältnisse, in der die Frauen in der damaligen Gesellschaft leben mussten, diesen Humor bewahrt hat.
Andrea Ott: Aber es ist nicht nur der Humor, sondern manchmal auch ein ganz tiefes Leid, zum Beispiel, wenn sie mit ihrem Kind in ein Kaufhaus geht, wo Santa Claus auftritt und die Kinder ihren Wunschzettel abgeben dürfen. Nur das schwarze Kind wird von Santa Claus ignoriert. Alle anderen dürfen ihre Wünsche äußern, aber bei der kleinen Schwarzen hört er einfach nicht hin. Und als das Kind fragt: „Was ist los? Wieso redet er nicht mit mir?“, versucht die Mutter, ihrem Kind diese ahnungslose Unschuld noch nicht zu rauben und erfindet irgendwelche Ausflüchte, um die Kleine abzulenken, damit sie noch nicht kapiert, dass es an ihrer Hautfarbe liegt, dass sie so mies behandelt wird. Da steckt viel Trauer drin und auch Verzweiflung. Da liegt alles sehr nah beieinander.
LiteraturReich: Und es ist ja auch ein ganz schmaler Roman, der sehr verdichtet und auch sehr poetisch ist, bestehend aus kleinen Momentaufnahmen. Also ich finde es ist wirklich eine sehr wunderbare Entdeckung.
Dr. Horst Lauinger: Mir ist beim Lesen von Gwendolyn Brooks noch eine ganz eigentümliche Parallele eingefallen. Miles Davis hat im Laufe seiner musikalischen Entwicklung seinen Stil immer mehr reduziert, sprich: Er hat melodische Linien irgendwann nur noch mit kleinen punktuellen Tönen markiert und nicht mehr ausgespielt. Das macht Gwendolyn Brooks gleichfalls in der Prosa. Sie markiert in dem romanhaften Leben ihrer Protagonistin nur einzelne Punkte, Episoden, und beim Lesen ergibt sich trotzdem ein Gesamtbild. Zwischen den einzelnen Episoden liegen große Zeiträume. Maud Martha ist am Beginn des Romans ein Mädchen, dann eine Jugendliche und schließlich eine verheiratete Frau. Der klassische Roman des 19. Jahrhunderts hätte das groß und breit auserzählt, da wäre noch der Onkel und die Tante mit reingekommen, Freunde, Bekannte, weitere Figuren, und da und dort noch eine Anekdote, noch ein Motiv, noch ein Handlungsstrang.
Doch das Faszinierende beim Lesen von „Maud Martha“ ist, zu sehen, dass die Autorin ganz ohne dieses Auserzählen auskommt. Keine Frage: Ich hätte auch gern mehr gehabt davon, weil ich so bezaubert bin von Gwendolyn Brooks‘ Prosa, aber ihre Erzählung funktioniert in dieser Reduktion auf ein paar Punkte, und man hat am Ende doch ein ganzes Leben vor sich. Das ist so unglaublich gut gemacht, wie sie das schafft, nur Wesentliches einzusetzen. Da gibt es zum Beispiel die Sterbeszene der Großmutter Maud Marthas, die unglaublich eindrücklich ist.
Es braucht nicht vorher noch fünf Episoden, damit man weiß, was die Großmutter ihr bedeutet. Das ist so großartig! Deswegen denke ich an Miles Davis, weil der Hörer bei sich den Rest der Melodie ergänzt, die „Leerstellen“ füllt. Das muss ich, wenn ich Maud Martha lese, auch machen. Ich sage nicht: „Oh, da fehlt mir was. Jetzt kapier ich nicht mehr, wie es weitergeht“, sondern ich ergänze mir in meiner Fantasie diese Leerstellen. Man kann im Grunde nur bedauern, dass Gwendolyn Brooks nicht mehrere solcher Romane geschrieben hat.
Andrea Ott: Es hat im Grunde etwas Lyrisches, indem sie etwas verdichtet. Es ist verdichtete Prosa.
LiteraturReich: Ich danke ganz herzlich für dieses Gespräch über Maud Martha von Gwendolyn Brooks. Ich hoffe, es findet noch viele, viele begeisterte Leser:innen.
Copyright der Fotos: Enja Jans vom Moka Magazin, der ich ganz herzlich für die Zusammenarbeit danke, und Petra Reich
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Gwendolyn Brooks – Maud Martha
Übersetzt von Andrea Ott, mit einem Nachwort von Daniel Schreiber
Manesse Verlag März 2023, Hardcover, 160 Seiten, € 22,00