Ingke Brodersen – Lebewohl Martha

Anfang der 1990er Jahre zog Ingke Brodersen mit ihrer Familie in eine Altbauwohnung in Berlin Schöneberg. Eine helle, geräumige Wohnung im vierten Stock in der Berchtesgadener Straße 37. Vor dem Haus im Pflaster eingelassen befindet sich einer jener Stolpersteine, die an ehemalige jüdische Bewohner:innen erinnert, die Opfer der Verfolgung durch die Nationalsozialisten wurden. 1993 wurden hier im Bayerischen Viertel in einem Projekt Tafeln aufgehängt, die Inhalte von nationalsozialistischen Gesetzen und Verordnungen zeigen, mit denen die Entrechtung der Juden in Deutschland vorangetrieben wurde. Dies war für die Historikerin und ehemalige Leiterin des Rowohlt Berlin-Verlags Ingke Brodersen der Impuls, der Geschichte der einst in ihrem Wohnhaus lebenden Menschen nachzuforschen – und daraus entstand ihr berührendes Buch Lebewohl, Martha.

Wer war diese Martha Cohen, an die der Stolperstein erinnert? Und wer waren die anderen 24 Menschen, die von der Berchtesgadener Straße 37 aus bis 1942 nach und nach deportiert wurden, wie erste Recherchen ergaben? Und warum waren es viel mehr Menschen jüdischer Abstammung, als überhaupt an dieser Adresse gemeldet waren? Die ausführlichen Recherchen im Berliner Adressbuch 1799-1970, in den Arolsen Archives, den Häftlingsunterlagen von Konzentrationslagern, den Akten des Entschädigungsamtes, dem Grundbuchamt und vielen anderen Archiven ergeben schließlich das Bild eines sogenannten „Judenhauses“, zu dem das einst gutbürgerliche Haus von den Nationalsozialisten umfunktioniert wurde.

Das bayerische Viertel

Im Bayerischen Viertel, einem Teil Berlins rund um den Bayerischen Platz, entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts für damalige Verhältnisse hochmoderne, gediegene Wohnhäuser mit Zentralheizung, modernen Bädern etc. Gutbürgerliche Familien und überproportional viele mit jüdischen Hintergrund zogen hier ein. Jahrzehnte später sprach Joseph Goebbels abfällig von einem „Judenparadies“.

Die Nationalsozialisten machten ab 1938, spätestens ab 1939 mit dem „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“, den Weg frei, Wohnungen zu räumen, die sie angesichts einer eklatanten Wohnungsnot und der hochtrabenden Pläne des Generalbauinspektor und späteren Rüstungsminister Albert Speer für die Reichshauptstadt Germania für parteitreue und arische Mitbürger bzw. für die Umgestaltung der Stadt und Errichtung breiter Straßenschneisen benötigten. Jüdischen Mietparteien wurden Räumungsbefehle erteilt und diese in vorwiegend jüdischen (Ex)-Eigentümern gehörenden Häusern unter größtenteils entwürdigenden Bedingungen und großer Enge eingewiesen. Dies war ein Teil der großangelegten Entrechtung der jüdischen Bevölkerung, wie in dem Projekt „Orte der Erinnerung“ eindrucksvoll demonstriert wird.

Manfred Brueckels, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Das „Judenhaus“

Auch Martha Cohen, die bereits hochbetagte Pianistin, bekam zwei Untermieterinnen. Und so erging es auch den anderen Mietparteien. Deshalb wurden später deutlich mehr Menschen aus dem Haus deportiert, als dort eigentlich gemeldet waren. Der Besitzer Siegfried Kurt Jakob war untergetaucht, nachdem seine Familie, wie viele der begüterten und jüngeren Jüd:innen, ausgewandert waren. Nach 1938 gestaltete sich dies allerdings zunehmend schwierig und gelang nur noch wenigen. Ingke Brodersen macht in Lebewohl, Martha schmerzlich bewusst, wie schwierig das Entkommen aus der sich zunehmend zuziehenden Schlinge der nationalsozialistischen Verfolgung war, wieviel Bürokratie zu bewältigen, welche hohen Summen zu bezahlen, welche Widerstände zu überwinden waren. Und wie wenig hilfsbereit das Ausland war. Immer höhere Hürden errichteten die Staaten, wenn sie überhaupt noch aufnahmegewillt waren.

Besonders infam und immer noch den Atem verschlagend war das Ausmaß, in dem die jüdische Bevölkerung, nachdem sie zunehmend sozial isoliert und entrechtet worden ist, finanziell ausgeplündert wurde. Die Fantasie und Effizienz war in diesem Bereich genauso erschreckend groß wie später bei der systematischen Vernichtung. Diese Praktiken verschafften nicht nur dem nationalsozialistischen Staat enorme Einkünfte, sondern machten viele, viele „normale“ Bürger zu mehr oder weniger bewussten Nutznießern der „Entjudungspolitik“. Die immer wieder gestellte Frage „wie es so weit hat kommen können“ findet hier eine Antwort. Der Kampf der Verfolgten hörte aber, sollten sie durch Flucht, Untertauchen oder in einem der Konzentrationslager überlebt haben, auch nach Kriegsende nicht auf. Ingke Brodersen schildert in Lebewohl, Martha bedrückend, wie sich die Entschädigungsbehörden der jungen deutschen Republik erbittert gegen entsprechende Anträge auf „Wiedergutmachung“ stemmten und die Antragssteller erneut demütigten.

Lebens- und Schicksalswege

Der Autorin gelingt mit ihrem Buch nicht nur, den Lebens- und Schicksalsweg der 24 aus der Berchtesgadener Straße 37 Deportierten mehr oder weniger ausführlich nachzuzeichnen (die Datenlage ist sehr unterschiedlich), sondern die Mechanismen der Entrechtung, Verfolgung und Vertreibung bzw. Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Berlins offenzulegen. Man spürt, wie nah die Autorin vielen ihrer Vormieter:innen durch ihre Recherchen gekommen ist. Stringente Lebensbilder sollte man aber nicht erwarten, denn eine wirklich nachvollziehbare Ordnung ihres Stoffs gelingt ihr weniger. Besonders zu Beginn springt sie sehr, bleibt nur kurz bei den einzelnen Personen, kehrt zurück, was manchmal unnötige Redundanzen mit sich bringt. Zunehmend gelingt es ihr aber, das Schicksal der Menschen in den Gesamtzusammenhang zu stellen und es auch in einen Bezug zur heutige Situation von Geflüchteten, die Ingke Brodersen immer wieder ehrenamtlich begleitet, zu bringen.

Lebewohl, Martha ist ein berührendes, betroffen machendes Buch, ein wichtiges Buch. Ich lege es jeder Leserin, jedem Leser ans Herz. Denn, wie Shelly Kupferberg in ihrem Zitat auf dem Buchdeckel schreibt:

„Geschichte, das ist auch heute. Diese eindringliche Lektüre macht dies einmal mehr deutlich.“

 

Beitragsbild OTFW, Berlin, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

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Ingke Brodersen - Lebewohl, Martha.

Ingke Brodersen -Lebewohl Martha
Die Geschichten der jüdischen Bewohner meines Hauses
Kanon Verlag April 2023, Gebunden mit SU, 288 Seiten, € 26,00

 

 

 

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