Ein Gespräch mit der Kulturwissenschaftlerin, Dokumentarfilmemacherin und Autorin Sarah Diehl über ihr aktuelles Buch Die Freiheit, allein zu sein
Beim diesjährigen Literaricum in Lech am Arlberg drehte sich alles um den 1813 entstandenen Roman Stolz und Vorurteil von Jane Austen. Der Roman kreist um die damalige Gesellschaft, die Frauen eigentlich nur den Weg der Ehe ermöglichte, um finanziell und sozial abgesichert zu sein. Bereits in ihrem 2014 veröffentlichten Buch Die Uhr, die nicht tickt, einer Analyse über gewollte Kinderlosigkeit von Frauen, plädierte Sarah Diehl für mehr Wahlfreiheit für Frauen, ihr Leben zu gestalten. Beim Literaricum in Lech sprach Sarah Diehl mit Nicola Steiner über ihr aktuelles Buch Die Freiheit, allein zu sein über Rollenkonzepte von Frauen, die Kleinfamilie, die Schwierigkeiten, die Frauen haben, sich Räume für das Alleinsein zu erobern.
Sarah Diehl plädiert für eine zeitweise, selbst gestaltete, freiwillige Form des Alleinseins und macht in ihrem Buch deutlich, dass dies nicht nur notwendig ist, um die eigenen Bedürfnisse zu spüren und kennenzulernen, sondern das dies auch für die Gemeinschaft wertvoll ist. „Wenn man sich selbst akzeptiert, kann man auch andere besser akzeptieren.“ Außerdem sucht sie nach neuen Formen des Zusammenseins, zu Alternativen zur Kleinfamilie, die für sie entgegen der allgemeinen Auffassung ein Ort ist, wo Einsamkeit entsteht. Neben wissenschaftlichen Erkenntnissen und eigenen Erlebnissen bindet Sarah Diehl auch Gespräche und historische Biografien in ihr Buch ein, was ich besonders gelungen finde.
Ich habe mich sehr gefreut, dass ich mit Sarah auf unserer gemeinsamen Heimreise ein sehr spannendes, ausführliches Gespräch über selbst gestaltetes Alleinsein, dessen Pathologisierung besonders bei Frauen und wie das mit dem Kapitalismus zusammenhängt, übers alleine Reisen und Pilgern, alternative Formen des Zusammenlebens, Lust und Leistungsgesellschaft führen durfte.
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LiteraturReich: Sarah, du unterscheidest in deinem Buch Alleinsein, Einsamkeit und soziale Isolation. Besonders die Abgrenzung letzterer von dem, wozu du Frauen ermutigen möchtest, finde ich wichtig.
Sarah Diehl: Bei sozialer Isolation ist es sehr wichtig zu bedenken, dass sie in der Regel nicht selbst gewählt ist, sondern mit sehr vielen gesellschaftlichen Faktoren einhergeht, die auch mit Armut, mit Ausgrenzung, mit Herkunft, mit Außenseiterstatus, mit Stigmatisierung und dergleichen zu tun haben. Etwas, was Menschen eben nicht selbst gestalten können. Und mir war es wichtig zu betonen, es gibt einen Raum des Alleinseins, der wirklich selbst gestaltbar ist, wo es eine Handlungsfähigkeit gibt, wo man nicht passiv ausgeliefert ist.
LiteraturReich Genau diese Ambivalenz schien mir sehr wichtig in deinen Überlegungen. Du betonst aber auch, dass diese selbstgewählte Einsamkeit oder dieses selbstgewählte und gestaltete Alleinsein besonders für Frauen oftmals von außen eine Art Pathologisierung erfährt, also dass die Entscheidung dafür eben nicht immer ganz frei ist, sondern dass da unter Umständen von der Umwelt sehr viel Druck ausgeübt wird. Könntest du das vielleicht noch kurz erläutern?
Sarah Diehl: Ich denke, dass Frauen immer noch sehr für den sozialen Kitt unserer Gesellschaft verantwortlich gemacht werden und darauf gebaut wird, dass sie diese Aufgabe auch leisten. Das Frauenbild, das wir immer noch haben und an dem wir auch festhalten wollen, hat sehr viel damit zu tun, dass Frauen für die Bedürfnisse anderer da sein sollen und nicht so sehr für ihre eigenen Bedürfnisse. Und deswegen, glaube ich, gibt es da sehr viele Ressentiments gegen Frauen, die auch mal einfach nur an sich und ihre Bedürfnisse denken wollen. Die gelten dann gleich als egoistisch oder man sagt, dass ihnen eben die soziale Ader fehlt und dergleichen. Da wird also viel stigmatisiert und pathologisiert.
Und das andere ist natürlich, dass das Selbstwertgefühl und generell der gesellschaftliche Wert von Frauen in einem patriarchalen Denken immer noch im Grunde von zwei Sachen abhängen, einmal davon, dass sie begehrenswertes Objekt für den Mann sein oder aber sich als Mutter oder Pflegende um andere kümmern sollen. Und ich denke, Frauen, die sich dem entziehen oder selbst dosieren wollen, wie sehr sie dem folgen, stellen im Grunde unsere Gesellschaft infrage. Denn wir bauen auf diese Rollen, wollen darauf auch in Form von unbezahlter Care-Arbeit zurückgreifen. Und ich vermute, dass Frauen deswegen auch so entwertet werden, wenn sie alleine sind. Man will ihnen ein unangenehmes Gefühl geben, wenn sie eigene Wege gehen. Sie werden dann schnell als defizitäre Wesen, als Mängelwesen dargestellt, empfinden sich manchmal selbst auch so.
Frauen stellen eben eine riesige Ressource dar, auf die wir gewohnt sind, zurückzugreifen. Und ich denke, deswegen wird das weibliche Alleinsein so negativ gezeichnet. Die erste Frauenfigur, die mir begegnet ist, die wirklich total autonom für sich alleine lebt, das war die Hexe im Wald. Daran sieht man sehr klar, wie stigmatisiert eine autonome Frau gezeichnet wurde. So, dass andere Frauen sich nicht mit ihr identifizieren sollen. Sie wird so hässlich gezeichnet, so unattraktiv, dass Frauen sagen: „Um Gottes willen, so will ich auf keinen Fall sein.“ Mich interessiert, wie sehr Frauen das internalisiert haben. Denn es ist nicht nur der Druck von außen, sondern es sind auch diese verinnerlichten Bilder, die Angst erzeugen sollen. Die Angst, dass sie ungewollte Wesen sind, wenn sie nicht dem Frauenideal entsprechen. Das ist immer noch etwas, das Frauen zum Heiraten treibt, dazu, faule Kompromisse zu machen oder Kinder zu bekommen, auch wenn das vielleicht gar nicht so nach ihrer Façon ist. Weil sie Angst haben vor diesem vermeintlich defizitären Bild, das sie sonst abgeben. Es ist sehr, sehr schwer für Frauen, Selbstwertgefühl nur aus sich selbst heraus zu schöpfen, weil unsere Gesellschaft das oft noch behindert.
LiteraturReich: Mir fallen jetzt gleich zwei Anknüpfungspunkte an das Literaricum in Lech ein, das gerade hinter uns liegt. Jane Austens „Stolz und Vorurteil“ stand dort im Mittelpunkt der Veranstaltung. In diesem Roman von 1813 wird ja auch der Wert einer Frau durch die Gesellschaft praktisch nur durch ihre Heiratsfähigkeit definiert. Das andere, und das sprichst du in deinem Buch auch an, ist, dass man verstärkt auf die eigenen Bedürfnisse hören soll. Bei Jane Austens Roman tun das ja vor allem Elizabeth Bennet, die das Bedürfnis hat, eben nicht zu heiraten, sondern allein zu bleiben, und Mr. Darcy, der das Bedürfnis hat, nicht auf jeden Ball zu gehen und da Smalltalk zu betreiben oder zu tanzen, sondern sich lieber zurückzieht. Das ist eigentlich schön passend zu deinem Buch, dass die beiden dadurch auch schon damals ausgegrenzt wurden, eben weil sie sich den gesellschaftlichen Konventionen nicht unterworfen haben. Hast du da auch eine Parallele gesehen oder das auch so empfunden, dass die beiden eigentlich ziemlich die einzigen sind, die sich nach ihren eigenen Bedürfnissen richten?
Sarah Diehl: Ja, deswegen passen die auch so gut zusammen. Genau. Und es ist irgendwie klar, dass genau diese beiden Außenseiter sich auch sehr kritisch beäugen, weil sie diese Standards hinterfragen wollen. Und die beiden finden sich dann ja auch, was natürlich sehr, sehr schön ist. Lustigerweise erinnert mich das sogar ein bisschen an mich und meinen Freund, wir sind auch beide sehr eigenbrötlerisch und haben uns da irgendwie auch sehr gut gefunden.
LiteraturReich: Ja, wunderbar, das passt wirklich.
Sarah Diehl: Jane Austen Buch zeigt wirklich, wie sehr dieses Frauenbild nicht aus der Natur der Frau heraus kommt, sondern wirklich durch krasse Verbote und krasse Gesetze erzeugt worden ist und dann angereichert wurde mit diesem Zuckerguss der Liebe, dem Zuckerguss des schönen Ideals, weil man das Ganze ja auch für Frauen schmackhaft machen will für. Aber es ging gleichzeitig über Zwang. Ich meine, vor 70 Jahren durften Frauen noch nicht mal ein eigenes Bankkonto haben und wurden in totaler finanzieller Abhängigkeit von Männern gehalten. Das waren Verbote und Gesetze und das hatte mit der Natur der Frauen eigentlich nichts zu tun.
LiteraturReich: Ich habe mir ein Zitat herausgeschrieben, und zwar sagst du, dass die Einsamkeit eigentlich in der Kleinfamilie begann. Und dass das tatsächlich ja auch eine gesellschaftliche Konstruktion ist, die politisch erwünscht ist. Aus verschiedenen Gründen. Zum Beispiel sagst du, dass das Modell der Erwerbsarbeit von 40 Stunden, Karriere, Aufstieg usw. in der modernen Gesellschaft eigentlich nur möglich ist, wenn entsprechende Ressourcen zu Hause warten.
Sarah Diehl: Wenn im Grunde unbezahltes Dienstpersonal in Form der Hausfrau da ist.
LiteraturReich: Genau. Und dann ist natürlich nicht erwünscht, dass die Hausfrau ihre Zeit fürs Alleinsein oder alleine Reisen oder Lesen oder wie auch immer verwendet. Was mir an deinem Buch auch gut gefallen hat, ist, dass du nicht im Individuellen stehen bleibst, sondern das Ganze gesellschaftlich weitest, dass du sagst, es ist auch in unserer Leistungsgesellschaft verankert, dieses Gefühl, möglichst nicht allein sein und immer produktiv sein zu müssen, sich immer zu verbessern, sich zu coachen. Fast stimmst du so ein kleines Loblied auf die Faulheit an.
Sarah Diehl: Ja, na ja, Faulheit oder besser Produktivität zu den eigenen Bedingungen, oder? Aber zunächst noch zu dem ersten Punkt. Also die Form der Kleinfamilie, die verspricht, ein Anker oder ein Garant gegen Einsamkeit zu sein, ist aber im Gegenteil etwas, das total viel Einsamkeit erzeugt. Da leben Menschen nur in dieser kleinsten Einheit, im Grunde über Jahre gebunden. Und dadurch werden größere solidarische Gemeinschaften einfach verhindert. Das ist etwas, wo Gesellschaft sich gegenseitig isoliert hat. So viele ältere Leute sind alleine zu Hause, und das wird dann immer beklagt. Aber das ist auch eine Folge der Kleinfamilie, davon dass man total normalisiert hat, dass eben nur Mutter, Vater, Kind zusammenleben. Wenn dann einer davon wegbricht, dann ist man alleine zu Hause. Und ich glaube, das entspricht uns Menschen einfach nicht. Also alleine in der Bude zu hocken, das meine ich dann wieder mit sozialer Isolation. Das ist eben nicht dieses positive Alleinsein, von dem ich spreche. Diese Isolation haben wir uns auch künstlich hergestellt durch die Kleinfamilie, die nur für sich verantwortlich ist und nicht mehr für eine größere Gemeinschaft. Im Grunde ist das auch eine Entpolitisierung und Entsolidarisierung von Gemeinschaft.
LiteraturReich: Du hältst auch ein Plädoyer dafür, sich auf die Suche nach alternativen Formen des Zusammenseins und alternativen Beziehungskonzepten zu machen. Weg von der Kleinfamilie, hin zu einer größeren Gemeinschaft.
Sarah Diehl: Ja. Deswegen ist auch die sogenannte Singlegeneration für mich eher eine Umbruchsphase, eine Phase der Veränderung. Weil viele Leute die bürgerliche Enge der Kleinfamilie nicht mehr wollen, aber noch keine anderen Konzepte sehen. Deswegen leben sie allein, kreieren dort aber neue Räume, die sich noch etablieren müssen, wo man wieder in größeren Kollektiven zusammenlebt oder soziale Elternschaft auch mit Kindern lebt. Und ich denke, da gibt es eine ganz große Sehnsucht, auch in der Richtung weiter zu forschen, zu experimentieren.
LiteraturReich: Ja, ein schöner Aspekt deines Buchs, über den man doch eigentlich mehr nachdenken müsste, ist, dass Alleinsein eigentlich auch zu mehr Verbundenheit in der Gesellschaft führen kann. Also dass diese Sorge über die Vereinzelung in der Gesellschaft und darüber dass das die Gesellschaft zerstört – dieses Bild findet man ja immer wieder auch in den Nachrichten etwa bei der Klage über immer mehr Singlehaushalte – unbegründet ist. Dass im Gegenteil das Alleinsein, das Hören auf eigene Bedürfnisse, was man praktisch auch nur im Alleinsein wirklich entwickeln kann, dass das zu mehr Verbundenheit auch in der Gesellschaft führen kann.
Sarah Diehl: Also mir geht es darum, dass Menschen lernen, mit sich selbst komplett zu sein, also sich selbst genug zu sein und sich nicht mehr so sehr an Erwartungshaltungen von außen abzuarbeiten. Und ich glaube, dass wenn ich wohlwollender mit meinen Bedürfnissen umgehe, ich auch sehr wohlwollend mit den Bedürfnissen anderer bin. Für mich ist das ein Mehrwert. Für mich ist das eine Öffnung hin zu anderen. Wenn man sich selbst akzeptiert, kann man auch andere besser akzeptieren.
LiteraturReich: Ich habe aus deinem Text auch herausgelesen, dass man sich manchen Leistungsanforderungen verweigern soll. Hier kann man an das letzte Literaricum in Lech 2022 mit dem Schwerpunkt Bartleby, der Schreiber von Herman Melville anknüpfen. Ich glaube, er wird bei dir im Buch auch erwähnt. Dass man manchmal einfach sagen muss, ich möchte eigentlich lieber nicht. Und dass gerade Frauen heute leicht in eine neue Mühle geraten können, wenn Sie sagen, ich möchte erwerbstätig sein, auch mit Kindern. Dass da wieder ein hoher Erwartungsdruck von außen da ist, dass sie die Doppel- oder Dreifachbelastung schultern. Ohne auf ihre Bedürfnisse zu hören.
Sarah Diehl: Genau. Also mein Plädoyer ist ganz klar, der Lust zu folgen, den eigenen Bedürfnissen als wirklich wertvoller Wegweiser. Und nicht zu denken, das muss man weg disziplinieren. Ich glaube, viele Leute prokrastinieren dieses Thema, weil sie immer das Gefühl haben, sie müssen sich zu was zwingen, worauf sie eigentlich keine Lust haben. Ich glaube aber, wenn man der Lust folgt und wirklich denkt: Okay, was, wie würde ich gerne arbeiten, wie möchte ich mein Familienleben gestalten? Wie will ich in meiner Liebesbeziehung oder mit meinen Kindern zusammenleben? Oder wie würde ich meiner Kreativität nachgehen können, wenn es wirklich um meine Bedürfnisse geht? Das ist ein viel kraftvollerer Raum, als wenn man immer nur den Vorstellungen der Leistungsgesellschaft folgt. So nimmt man sich sehr viel Kraft, indem man versucht, sich immer zu disziplinieren, anstatt einfach der Lust zu folgen. Die wird aber immer mit Faulheit, mit Unproduktivität usw. verbunden.
Also für mich ist das auch wirklich eine etwas toxische Verbindung zwischen Kapitalismus und christlich geprägtem Arbeitsethos. Diese Vorstellung, wie man ein sinnhaftes Leben führt. Immer nur über Arbeit und Leistung? In dieser Mühle stecken wir halt total fest. Wenn man aber lernt, auf sich und seine Bedürfnisse zu hören, ist da wirklich viel gewonnen. Und das hat nichts mit Passivität oder mit Egoismus zu tun, sondern mit einer Fülle von Gestaltungsfreiheit, die einem da auf einmal erblüht.
Und auch Mutterschaft ist meines Erachtens Teil der Leistungsgesellschaft geworden. Familienplanung, Karriereplanung, Dinge, die wir in unseren Zwanzigern und Dreißigern machen müssen – das macht wirklich alle verrückt. Das merke ich auch bei dem Seminar, dass ich gebe. Nachdem ich „Die Uhr, die nicht tickt“ geschrieben habe, sind viele Frauen auf mich zugekommen und haben gesagt, man bräuchte mal einen Workshop zum Thema Kinderlosigkeit und Mutterideal. Seit zwei Jahren gebe ich mit einer Therapeutin gemeinsam ein Seminar zum Thema „Will ich Kinder?“ Für Frauen und Paare ist das ein Riesenthema. Ich sehe, dass viele junge Menschen überhaupt nicht mehr wissen, wie sie auf ihre Bedürfnisse schauen und wie sie diese wirklich formulieren können. Es geht immer nur um Ideale, um eine Absicherung von allen Seiten, die Frage: Muss ich das machen, um ein sinnvolles Leben zu haben? Darf ich mich dem überhaupt entziehen? Oder wie kann ich auch Mutterschaft lustvoll gestalten und nicht nur nach perfektionistischen Maßstäben? Also das ist ein ganz großes Thema.
LiteraturReich: Und wie du schreibst: Diese Bedürfnisse kann man nicht wirklich erkennen, wenn man immer im Hamsterrad bleibt, in diesem Gefühl, ich muss immer auf Achse sein, ich muss immer Leute treffen usw., wenn man sich gar nicht mal zurückzieht und schaut, was möchte ich eigentlich?
Mit deinem Buch willst du Frauen auch die Angst vor dem Alleinsein nehmen. Du reist ja auch sehr viel ohne Begleitung und machst sehr viel alleine. Für erschreckend viele Frauen ist selbst allein ins Kino oder Essen zu gehen, ein Problem.
Sarah Diehl: Ich finde es dramatisch, wenn man bedenkt, was für Lügen einem da auch erzählt werden. Zum Beispiel alleine zu reisen wird immer als so gefährlich dargestellt. Und das möchte ich wirklich immer wieder mit roten Lettern überall hinschreiben, dass es statistisch gesehen viel gefährlicher für Frauen ist, in der Familie zu sein. Weil da passiert viel mehr häusliche Gewalt, da werden viel mehr Frauen umgebracht, als wenn sie alleine reisen. Für mich zeigt das wieder, wie verrückt manche Bilder sind, die Frauen aber davon abhalten, eigene Wege zu gehen und sich wohlzufühlen in der Öffentlichkeit. Immer wird gesagt, du bist dann auch selbst dran schuld, wenn dir irgendwas passiert, weil du warst ja alleine unterwegs. Dabei ist eben genau das, was einem als Schutzraum vorgegaukelt wird, der Raum, wo die Frauen am meisten Gewalt ausgesetzt sind. Und das ist eine der tief sitzenden patriarchalen Lügen. Ein Beispiel dafür, wie der Raum für Frauen systematisch eingeschränkt wurde.
Wenn man mal Lust darauf hat, das Alleinreisen für sich zu erproben, dann ist Pilgern eine sehr gute Art, das zu üben. Dieses Dosieren zwischen Alleinsein und Gemeinschaft, das ist Teil dieses Konzepts. Weil du alleine gehen kannst und alle verstehen, wenn du mal Zeit für dich brauchst. Andererseits findest du aber immer in Herbergen die Gemeinschaft. Darin zeigt sich so ein wunderschönes Konzept, so ein Urkonzept von Menschlichkeit. Und diese Konzepte findest du in allen Kulturen. Das Pilgern ist nicht nur ein christliches Ding. Diese Idee, du gehst los, setzt dich der Welt aus mit deiner Wahrnehmung, öffnest dich in deiner Wahrnehmung. Gerade weil du allein bist, ist deine Aufmerksamkeit total offen für deine Umwelt, für andere Menschen. Du gehst alleine los, um dich zu erkunden, um die Welt zu erkunden. Aber es gibt eine Gemeinschaft anderer Pilger, die das unterstützt und es gibt Menschen, die die Herbergen bauen für Menschen, die alleine losziehen. Und das finde ich so schön.
So betrachte ich ein bisschen auch mein Leben, glaube ich. Ich habe, nachdem ich einmal gepilgert bin, gemerkt, dass alleine Fahrradfahren für mich im Grunde wie eine Pilgerschaft ist. Über Wochen alleine mit dem Fahrrad unterwegs sein und da immer wieder so eine krasse Verbundenheit herzustellen mit Menschen, gerade weil ich alleine bin. Immer ins Gespräch zu kommen mit Menschen, das ist für mich eine der schönsten Arten zu leben. Und ich vertraue dieser Verbundenheit wirklich auch.
Für mich ist der Schreibprozess auch etwas gleichzeitig Kollektives und Einsames. Mich inspiriert die Welt, also Menschen. Alles, was ich sehe erzählt mir Dinge, Erfahrungen von anderen Menschen, die mir geschenkt werden inspirieren mich. Und das verdaue ich dann im Grunde alleine, indem ich ein Buch schreibe. Das muss ich allein machen. Der Schreibprozess selbst ist dann schon sehr, sehr einsam. Aber dann kann ich dieses Buch wieder raussenden in die Welt und ganz viele Menschen lesen es und machen dann wieder was Eigenes daraus. Das ist für mich eine Fortsetzung von Kreativität, dass die Welt sich etwas über die Welt erzählt. Das finde ich wahnsinnig schön und unglaublich befriedigend. Das ist ein Prozess, wo du immer wieder hin und her gehst zwischen dem Einsamen und dem Kollektiven. In dem Bild zeigt sich, glaube ich, auch sehr gut, wie ich das meine, diese Produktivität in der Einsamkeit, die aber dann Verbundenheit herstellen kann.
LiteraturReich: Für Frauen wird aber oft dieser Raum zum Alleinsein beschnitten. Weil das eben auch vom System, von der Gesellschaft gewünscht wird, dass das so bleibt. Wie du schon sagst, Care-Arbeit usw. muss ja von irgendjemandem geleistet werden. Wenn die Frauen sagen, hier, ich möchte jetzt erst mal allein verreisen oder ich brauch jetzt mal mehr Raum für mich, dann funktioniert wahrscheinlich das ganze kapitalistische System nicht mehr so, wie es sollte. Jedenfalls nicht in den alten Strukturen.
Sarah Diehl: Wenn Fürsorgearbeit oder Care-Arbeit immer als etwas Wertloses gesehen wird, als etwas, das nicht oder schlecht entlohnt wird. Das hat der Kapitalismus durch den meist männlichen Arbeitgeber immer mit eingekauft, weil es immer noch diese geschlechtliche Arbeitsteilung in Kleinfamilien gibt. Was ich da auch sehr interessant finde, ist, wie es in der feministischen Ökonomiekritik heißt: Alles was der Kapitalismus umsonst haben will, beschreibt er als „Natur“. Das ist eine sehr kluge Zusammenfassung von dem, was da passiert. Also die Rolle der Hausfrau, die Fürsorglichkeit und Liebe der Frau für ihre Familie ist dann „Natur“, wird über ihre „Natürlichkeit“ sozusagen gerechtfertigt oder beschrieben als Erfüllung und Sinn des Lebens. Das wurde Frauen jahrhundertelang so verkauft. Aber tatsächlich geht es einfach darum, alles, was als „Natur“ beschrieben wird, einfach umsonst zu kriegen. Das ist bei der Rolle der Hausfrau und Mutter genau das gleiche wie bei sämtlichen natürlichen Ressourcen, die wir ausbeuten. Diesen Zusammenhang zu sehen finde ich auch total interessant.
LiteraturReich: Dein Buch ist ein flammendes Plädoyer dafür, sich ein selbstgewähltes, selbstgestaltetes Alleinsein zumindest zeitweise zu ertrotzen, gegen all diese äußeren Widerstände.
Sarah Diehl: Ja, aber auch ein Plädoyer für eine Gesellschaft, die das ermöglicht. Und deswegen finde ich auch die soziale Elternschaft ein wichtiges Konzept. Wenn die Verantwortung für Kinder von mehreren Leuten getragen wird, haben die Eltern auch wieder mehr Zeit zum Alleinsein, wieder mehr Zeit für sich. Dann ist es nicht nur die eine biologische Mutter, die sich komplett aufopfern muss und überfordert ist mit der ganzen Arbeit, die sie leisten muss, um permanent für eine andere Person da zu sein. Plus die Unterforderung, wenn es um ihre eigene Entwicklung und ihre eigenen Bedürfnisse geht. Das halte ich für wirklich kein gesundes Konzept. Das tut den Kindern nicht gut, es tut den Müttern nicht gut. Eine Erweiterung durch Formen von Care-Konzepten, wo mehrere Leute sich kümmern, wo Fürsorglichkeit überhaupt nicht mehr an ein Geschlecht gebunden ist, sondern generell als menschliche Qualität gesehen wird, das wäre wichtig. Ich will überhaupt nicht sagen: Leute geht auf einen Egotrip durch Alleinsein. Sondern für mich geht das einher mit einer Umverteilung von Fürsorgearbeit. Sodass wir alle gut aufeinander aufpassen, aber eben auch das Alleinsein und ein Rückzug nicht mehr entwertet wird. Vor allem nicht für Frauen.
LiteraturReich: Wovon die Gesellschaft eigentlich nur profitieren kann. Ich danke dir ganz herzlich für das Gespräch.
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Sarah Diehl – Die Freiheit, allein zu sein. Eine Ermutigung
Arche Verlag September 2022, 400 Seiten,Gebunden, € 24,00
Liebe Petra,
dank deines Beitrags aus Lech lese ich nun auch immer wieder in Sarah Diehls Buch über die „Freiheit, allein zu sein“. Es ist nun schon das dritte Buch zum Thema, neben Daniel Schreibers „Allein“ und Katja Kullmanns „Die singuläre Frau“. Und ich lerne immer wieder neue Facetten und Betrachtungsweisen über das Alleinsein. Vielen Dank für deinen Beitrag damals und auch jetzt mit dem schönen langen Interview.
Viele Grüße, Claudia
Liebe Claudia, Danke fürs Lesen und Kommentieren. Dass dir das Buch und unserer Gespräch gefallen hat, freut mich sehr und bedeutet mir viel. Liebe Grüße, Petra