Augustblau – August Blue, im englischen Original weitet sich der Titel des neuen Romans von Deborah Levy zu noch mehr Deutungsmöglichkeiten. Und für das literarische Werk der 1959 in Südafrika geborenen und in Großbritannien aufgewachsenen Autorin sind diese vielfältigen Deutungsebenen so wichtig wie die Musikalität ihrer Texte und ihr Anspielungsreichtum. Traurigkeit liegt im Titel, aber auch Melancholie und Sehnsucht.
Ganz konkret ist Blau die neue Haarfarbe der Protagonistin, der weltberühmten Konzertpianistin Elsa M. Anderson. Das M. steht für ihren zweiten Vornamen Miracle, das Wunder. Elsa ist nun 34 und war schon früh ein Wunderkind, dabei standen ihre Chancen dafür nicht von Anfang an gut. Ihre leiblichen Eltern sind ihr unbekannt, aufgewachsen ist sie bei liebevollen, aber etwas beschränkten Pflegeeltern in Ipswich/Suffolk. Als sie 6 Jahre alt ist, adoptiert sie der Pianist und Klavierlehrer Arthur Goldstein, der schon früh ihr Talent bemerkt, sie fördert und neu erfindet. Ann war ihr Name, zu Elsa Miracle Anderson macht sie nun ihr Adoptivvater.
Ein geplatztes Konzert
Als wir Leser:innen ihr begegnen, befindet sie sich in einer schweren Krise. Bei einem Konzert in Wien patzt sie bei Rachmaninoffs 2. Klavierkonzert und der Dirigent stellt sie derart bloß, dass sie die Bühne fluchtartig verlässt. Sie ist fortan geächtet, befürchtet sogar hohe Entschädigungsforderungen aus Wien. Ihren Lebensunterhalt verdient sie nun durch Privatunterricht bei vermögenden Familien. Wir befinden uns in der Endphase der Covid-19-Pandemie, viele Restriktionen sind bereits gelockert, Reisen beispielsweise wieder möglich, Masken aber noch weitverbreitet. Und besonders die Ängste und Verunsicherungen durch die Pandemie sind noch deutlich spürbar.
„Der schlimmste Teil der Pandemie war vorüber, aber alle sahen verstört und angeschlagen aus.“
Zu dieser allgemeinen Verfasstheit kommt Elsas persönliche Krise. Sie fühlt sich isoliert, haltlos, desorientiert. Wie eine Nomadin zieht sie von Engagement zu Engagement. Vom dreizehnjährigen Marcus auf der griechischen Insel Poros zur sechzehnjährigen Aimée nach Paris, mit Zwischenstationen in ihrer Heimat London.
Eine doppelgängerin
Das erste Mal sieht sie die Frau in Athen. Sie trägt den gleichen enggegürteten grünen Regenmantel wie sie, auf dem Kopf einen Trilby-Hut und ist gerade dabei, auf einem Flohmarkt zwei mechanische, tanzende Pferde zu kaufen. Elsa verspürt den unbedingten Drang, auch solche Pferde zu besitzen, aber es waren die letzten zu verkaufenden. Das Doppelgänger-Motiv ploppt auf und Elsa entwendet der Fremden den Trilby. Dieser Hut bekommt im Verlauf des Romans eine solche prominente Stellung, Elsa trägt ihn ständig bei sich, auch als ihr die Doppelgängerin in London und Paris wiederbegegnet, dass man natürlich nach tiefergehender Bedeutung zu forschen beginnt.
Und tatsächlich ist der Trilby nach einem Roman von George du Maurier benannt und gehört dort einer jungen Frau, die trotz fehlender Musikalität zu einer gefeierten Sängerin wird. Wie das? Durch den Zauber, die Hypnose durch einen Hexenmeister, der eines Abends die junge Frau während eines Konzerts aber im Stich lässt. Ihr Auftritt wird wie derjenige Elsas in Wien zum Desaster. Damit aber nicht genug der Anspielungen. Wenn man bei Rachmaninoffs 2. Klavierkonzert recherchiert, erfährt man, dass der Komponist dieses sehr bekannte und beliebte Werk nach einer Schaffenskrise durch den Misserfolg seiner 1. Sinfonie erst nach einer erfolgreichen Hypnosebehandlung fertigstellen konnte. Solche Anspielungen zu finden, haben für mich den großen Reiz bei der Lektüre von Augustblau von Deborah Levy ausgemacht. Aber auch formal und inhaltlich hat der Roman einiges zu bieten.
Die inneren Dialoge mit der Doppelgängerin, dem Alter Ego, rhythmisieren den Text. Sie drehen sich um die Frage: Wer bin ich? einer zutiefst verunsicherten Frau.
„Vielleicht tue ich das.
……..Vielleicht tust du was?
……..Nach Gründen suchen, um zu leben.“
„Vielleicht bin ich es.
…….Vielleicht bist du was?
…….Niedergeschlagen.“
Rätsel
Auch die reine Handlungsebene ist surreal und enigmatisch. Elsas Begegnungen mit der Doppelgängerin, ihre inneren Dialoge mit ihr, die Tanzpferde, die zu einem wiederkehrenden Traum führen, in dem Pferde einen Bösendorfer Flügel über den Acker des Hauses in Ipswich ziehen, die Identität ihrer leiblichen Mutter, das Trauma des Verlassenwerdens und das komplizierte Verhältnis zu ihrem Adoptivvater und musikalischen Förderer Arthur Goldstein – das alles entschlüsselt sich nur langsam. Am Ende führt es Elsa nach Sardinien, wo Arthur, eifersüchtig bewacht von seinem Nachbar und vermutlich Liebhaber Andrew im Sterben liegt. Einige der Fragen zu ihrer Herkunft und ihren Traumata werden gelöst. Aber die Verunsicherung bleibt.
„Ich wollte die alte Welt schmelzen sehen wie Winterschnee. (…) Zum ersten Mal, seit sie in meinem Leben aufgetaucht war, sah ich ihr direkt in die Augen. Sie nahm meinen Blick an, und ich sah einen Teil des Menschen, der sie war, nicht den Menschen, den ich in ihr sehen wollte. Es war kein angenehmer Augenblick. (…) Während der Regen sanft und leicht auf den Boulevard Saint-Germain fiel, sagte ich ihr, dass ich an dem Konzertabend in Wien aufgehört hatte, mich in Rachmaninoffs Trauer einzunisten und es einen Augenblick lang gewagt hatte, in unserer eigenen zu leben.“
Ein poetisches und nebenbei auch noch wunderschön gestaltetes Buch, übersetzt von Marion Hertle.
Beitragsbild: FOTO:FORTEPAN / Konok Tamás id, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
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Deborah Levy – Augustblau
Aus dem Englischen von Marion Hertle
Aki Verlag Juli 2023, 176 Seiten, gebunden, € 24,00