Seit über zwei Jahren steht der Roman Die Postkarte der 1979 geborenen französischen Schauspielerin und Regisseurin Anne Berest auf den Bestsellerlisten in Frankreich. 2021 war er für mehrere große Literaturpreise des Landes nominiert, u.a. auch für den Prix Goncourt. Der Skandal darum, dass ein Mitglied der Jury den Roman im Vorfeld in der Zeitung Le Monde verrissen hat und gleichzeitig mit einem der Mitbewerber liiert ist, hat dem Buch zumindest bei den Leser:innen nicht geschadet. Glücklicherweise, denn die Geschichte der eigenen Recherche der Autorin zu ihrer Familie, die weit in die dunklen Jahre der deutschen Besetzung und der Shoa führen, verdient es von vielen gelesen zu werden.
Es ist die Familiengeschichte Anne Berests mütterlicherseits, über die beharrlich geschwiegen wurde, und die mit einer der Mutter Lélia 2003 zugestellten rätselhaften Postkarte plötzlich wieder vor der Tür steht. Adressiert an M. Bouveris – der Mädchenname von Lélia – stehen auf ihr wie auf einer Liste vier Namen: Ephraim, Emma, Noemi und Jacques. Das sind die Großeltern, die Tante und der Onkel der Mutter. Diese vier Rabinovitschs sind nach der Besatzung Frankreichs durch die Deutschen 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden. Nur die Tochter Myriam Rabinovitch, Lélias Mutter, hat überlebt. Aber was soll nun diese Karte, vermutlich aus den 1940er Jahren stammend und die Opéra Garnier abbildend, bedeuten? Ein Absender ist nicht vermerkt.
Eine familiengeschichte
Die Neugier ist geweckt, aber erst 15 Jahre später, als Anne Berest von ihrer Tochter erfährt, dass man an ihrer Schule „Juden nicht so besonders“ mag, fällt ihr die Postkarte wieder ein, wird sie mit ihrer eigenen jüdischen Identität konfrontiert und damit, was es heute für sie und ihre Tochter Clara noch bedeutet, Jüdinnen zu sein. Sie fragt ihre Mutter Lélia, die anfangs abwehrt, nicht über die Familiengeschichte und ihr schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter Myriam sprechen will. Aber nach und nach erzählt sie, kommen Briefe und Tagebücher hervor, stellen die beiden Recherchen bei Behörden und im Familien- und Bekanntenkreis an.
Ephraim und Emma Rabinovitch stammten aus Moskau, emigrierten aber bereits nach der russischen Revolution 1919 vor dem aufkochenden Antisemitismus nach Riga. Aber auch von dort müssen sie 1929 fort, nachdem der zunächst prosperierende Kaviarhandel von Ephraim – vielleicht durch einen antisemitischen Neider – ruiniert wurde. Mit ihren drei Kindern zog die Familie zunächst nach Paris, nach der deutschen Besatzung 1940 ins vermeintlich sicherere Umland. Aber auch da holten sie die Judenverfolgung der Nationalsozialisten und die zunehmenden Restriktionen ein.
Die Deportation
Der Deportation 1942 entkam nur die älteste Tochter Myriam, da sie zu der Zeit bereits mit Vicente Picabia, dem Sohn des Malers Francis Picabia, verheiratet und in Paris gemeldet war. Während die Eltern und Geschwister in Auschwitz sehr bald ermordet wurden, schaffte es Myriam mit der Hilfe von Vicentes Familie in den noch unbesetzten Süden und dort vor den Verfolgungen der Vichy-Regierung unterzutauchen. In einer Hütter auf der Hochebene von Claparèdes lebten Myriam und Vicente zusammen mit Yves Bouveris, der nach der Trennung der beiden Myriams Mann werden sollte. Tochter Lélia ist allerdings (vermutlich) noch die Tochter von Vicente. Myriam und Yves schlossen sich der Résistance an.
Diese tragische und komplexe Familiengeschichte erzählt Anne Berest in Die Postkarte sehr einfühlsam, nie pathetisch, sondern präzise und fast ein wenig leicht. Was ihr aber nicht die Vielschichtigkeit nimmt. Besonders der Aufbau des Buches, in dem die Autorin ihre Leser:innen an ihren fortschreitenden Recherchen teilnehmen lässt und die historische Erzählebene im besonders unmittelbaren Präsens damit verzahnt, ist sehr gelungen. Trotz der über 500 Seiten wird das Buch an keiner Stelle redundant, sondern bleibt bis zum Ende spannend und berührend. Und auch das Rätsel um die Postkarte löst Anne Berest am Ende auf. Allerdings ganz anders, als man vielleicht vermutet hat. Ein sehr gelungenes Buch und eine große Leseempfehlung!
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Anne Berest – Die Postkarte
Übersetzt von: Michaela Meßner und Amelie Thoma
Berlin Verlag Juni 2023, 544 Seiten, Hardcover, € 28,00
Ich hatte es am Freitag in der Buchhandlung meines Vertrauens in der Hand, fühlte mich aber spontan der Lektüre mental nicht gewachsen. Zu sehr belastet mich vermutlich die immer größer werdende „Das-wird-man-wohl-noch-sagen-dürfen“-Fraktion. Aber falls der Sommer seiner eigentlichen Bezeichnung nochmal Ehre machen sollte, und mein Gemüt mit ihm, komme ich vielleicht drauf zurück. 🙂
Falls es dich motiviert, es zu lesen: Das Buch ist trotz seines wirklich traurigen Inhalts nicht bedrückend, sondern sehr positiv geschrieben. Viele Grüße und auf mehr Sonnenschein!