Penelope Mortimer – Bevor der letzte Zug fährt

In der Literaturgeschichte lohnt das Graben nach Vergessenem und Übersehenem. Gerade im letzten Jahr habe ich viele großartige deutsche Erst- und Neuübersetzungen von Autor:innen (tatsächlich überwiegend weibliche) gelesen. Sehr verdient macht sich dabei u.a. der Schweizer Dörlemann Verlag, der seine Ausgaben zudem noch besonders schön gestaltet. Meine neueste Entdeckung ist Bevor der letzte Zug fährt von Penelope Mortimer, übersetzt von Kristine Kress. (Auch großes Lob an den Verlag dafür, dass die Übersetzerin prominent auf dem Titel erwähnt wird).

Dieser 1958 erschienene Roman liegt zum ersten Mal auf Deutsch vor. Und das erstaunt angesichts der literarischen Qualität sehr. Andererseits berührt der Text Themen, von denen man zur damaligen Zeit sicher nicht unbedingt lesen wollte. Die 1918 geborene Journalistin, zeitweise Kummerkastentante für die Daily Mail und sechsfache Mutter von Kindern unterschiedlicher Väter Penelope Mortimer spricht in Bevor der letzte Zug fährt ein in der damaligen Zeit stark mit Tabus behaftetes Thema an: die ungewollte Schwangerschaft und deren Beendigung. Erst 1967 wurden Abtreibungen in England legal.

Eine Bilderbuchexistenz

Die 37jährige Ruth Whiting lebt mit ihrer Familie in der Nähe von London auf dem Land. Ein schönes, gepflegtes Haus, den gutaussehenden Zahnarzt Rex zum Mann, eine fast erwachsene Tochter und Zwillingssöhne, dazu eine nette Nachbarschaft – eine scheinbare Traumexistenz, hinter deren Fassade wie so oft das Grauen herrscht. Pendlerzüge transportieren aus diesem Suburbia jeden Morgen die Männer Richtung Stadt, zurück bleiben die Frauen und Kinder, oftmals gelangweilt, ungeliebt, hoffnungs- und trostlos. Trotz der ganzen Smalltalks über den Gartenzaun, der Kaffeeklatsche und Abendeinladungen sind die Frauen meist vereinsamt, suchen einen Sinn in ihrem Leben bei ausgedehnten Shoppingtouren und oft genug bei dem einen oder anderen Drink. Mehr als die ständigen Sorgen mit dem Personal werden nicht geteilt, man muss die Fassade aufrechterhalten.

„Wird das immer so weitergehen? Kann es sein, dass sich nie etwas ändert?“

Ruths Mann lebt unter der Woche in seiner Praxis in London, kommt nur am Wochenende, wenn überhaupt, heim. Dass wie so oft eine Affäre dahintersteckt, kann Ruth selbst kaum verwundern. Aber auch sie kann Rex kaum noch ertragen, die Ehe besteht schon lange nur noch nach außen. sie diente zur Legalisierung einer frühen Schwangerschaft, der Wahrung der Fassade.

Eine ungewollte Schwangerschaft

Nun sind die langen Sommerferien zu Ende, Rex wohnt wieder vorwiegend in London, die Jungen sind im Internat und die ablehnende achtzehnjährige Angela studiert in Oxford. Seit Kurzem treibt sie sich zum Kummer ihrer Mutter mit dem eher zwielichtigen Typen Tony herum. Das angespannte Verhältnis zwischen Mutter und Tochter leidet zusätzlich darunter. Die Dialoge zwischen den beiden sind schroff, teilnahmslos, oft bissig. Und doch sucht Angela die Hilfe ihrer Mutter als ihr das passiert, was zu der Zeit die größte Sorge aller unverheirateten Mädchen ist: sie ist schwanger. Natürlich wollen weder sie noch Tony das Kind und auch Ruth setzt alle Hebel in Bewegung, damit ihrer Tochter das eigene Schicksal einer zu frühen Schwangerschaft und einer ungeliebten Pflichtehe erspart bleibt. Ihr erwächst angesichts der Lage ihrer Tochter und deren Apathie eine ungeahnte Kraft. Dabei heißt es von Ruth:

„Sie hatte niemals keine Angst.“

Penelope Mortimer erzählt in Bevor der letzte Zug fährt, wahrscheinlich autobiografisch inspiriert, vom schwierigen, oft demütigenden Weg von Arzt zu Arzt, von Heimlichkeiten, Verzweiflung, Trotz und der Undankbarkeit der Kinder. Die öde, trostlose Welt der Vorstädte, die oft ausweglose Lage der Ehefrauen und Mütter, die selbstherrliche, anmaßende und oft pflichtvergessene Haltung der Männer und immer und vor allem muss die Fassade gewahrt werden – das erfasst die Autorin kühl analytisch, aber auch sehr unterhaltsam, stilistisch brillant und ironisch-sarkastisch mit überzeugenden Dialogen und einer ordentlichen Portion Situationskomik. Ich hoffe sehr, dass noch weitere Romane von Penelope Mortimer neu oder erstmals übersetzt werden. Für mich ist sie eine der großartigen Wiederentdeckungen dieses Jahres.

 

Beitragsbild by Steve Brandon auf Pixabay

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Penelope Mortimer - Bevor der letzte Zug fährt.

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Penelope Mortimer – Bevor der letzte Zug fährt
Aus dem Englischen von Kristine Kress
Dörlemann Verlag 2023, 304 Seiten, Leinen, € 26.00

 

 

 

 

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