Der Kaninchenstall heißt in der Umgangssprache ein etwas heruntergekommener Wohnblock in Vacca Vale, Indiana, einer ihrerseits auch recht heruntergekommenen (fiktiven) Stadt mitten im US-amerikanischen Rustbelt. Dort wo schon lange die Lichter ausgegangen sind. Seit der Deindustrialisierungswelle der 1980er und 90er Jahren, als die einstigen Industriehochburgen mit ihrer Stahlproduktion sowie der Automobil- und Waffenindustrie begannen, ihre Bedeutung für die amerikanische Wirtschaft zu verlieren, steht dieser Teil der USA für Niedergang und Hoffnungslosigkeit. „Lapinière Affordable Housing Complex“ ist der hochtrabende offizielle Name des Gebäudes, benannt nach den vielen Kaninchen, die die Gegend bevölkern. Aber die Protagonisten von Tess Gunty wissen sehr wohl, dass es eigentlich nur Der Kaninchenstall ist.
Die englischsprachige Literaturszene hat mit Tess Gunty wieder einen Mega-Star ge- und erfunden. Und so reihen sich auch Lobeshymnen der Superlative auf dem Schutzumschlag der von Sophie Zeitz übersetzten deutschen Ausgabe. „The rabbit hutch“ ist der Debütroman einer knapp dreißigjährigen, sehr gut aussehenden Autorin und gewann 2022 sofort den National Book Award und einige andere Literaturpreise. „Der neue Star am Literaturhimmel“, gar eine Autorin „vom Format eines David Foster Wallace“ lauteten die Superlative, die Tess Gunty entgegengebracht wurden. Und ja, es ist durchaus bewundernswert, mit welchem handwerklichen Können, mit welchem literarischen Wagemut und welcher Sorglosigkeit die junge Autorin durch ihren Roman fegt.
Ein Apartmenthaus
Mittelpunkt von Der Kaninchenstall ist oben erwähntes Apartmenthaus. Wie mit einer Kamera schaut Gunty in die verschiedenen Wohnungen hinein, deren Bewohner:innen größere oder kleinere Rollen im Erzählten einnehmen. Zentrum ist Apartment C4, in dem, wir erfahren es gleich am Anfang, Blandine Watkins, eine 18jährige ätherische Schönheit „ihren Körper verlässt“. Ein Großteil der bis zum Ende andauernden Spannung bezieht der Roman aus der Frage, was in jener „heißen Nacht“ mit der jungen Frau passiert ist und was uns Tess Gunty dazu auf den nächsten über 400 Seiten enthüllt.
Blandine oder ursprünglich Tiffany ist eine von verschiedenen, allesamt etwas freakigen Figuren, die im Kaninchenstall leben. Die junge Frau, die schon als Neugeborenes, direkt nach der Entbindung von ihrer drogenabhängigen Mutter einen harten Entzug durchmachen musste und anschließend von Pflegefamilie zu Pflegefamilie wanderte, vermutlich sexuellem Missbrauch ausgesetzt war (das wird nur angedeutet) und nach einer Affäre mit ihrem deutlich älteren Theaterlehrer die Schule schmiss und seitdem in einem Diner jobbt, lebt in Apartment C4 mit drei jungen Männern, die ein ähnliches Schicksal hatten und auch soeben aus der Fürsorge entlassen worden sind. Blandine ist von etwas geisterhafter Schönheit, sucht mach Transzendenz und liebt mittelalterliche Mystikerinnen und Märtyrerinnen, besonders Hildegard von Bingen und Theresa von Avila. Dass sie zudem hochbegabt ist und allen Männern, inklusive ihren Mitbewohnern, den Kopf verdreht vervollständigt ihr Porträt.
und seine Bewohner:innen
In einer der Nachbarwohnungen lebt Joan Kowalski, 40, Single und beruflich für ein Nachruf-Online-Portal unangemessene Kommentare entfernend. Sie zieht durch einen gelöschten Kommentar die Wut von Moses Blitz auf sich, der Dinge, die ihn ärgern, „rächt“, indem er sich mit fluoreszierender Flüssigkeit aus Knicklichtern einschmiert und nachts die Auslöser:innen seiner Wut erschreckt. Seine Mutter, um die es im Nachruf (zu Lebzeiten) ging, ist der ehemalige Kinderstar einer 50er Jahre-Fernsehserie, Elsie Blitz. Eine weitere Nachbarin von Apartment C4 ist Hope, die womöglich unter einer postnatalen Depression leidet und angesichts der Augen ihres Babys in Panik verfällt. Allerhand skurrile Figuren bevölkern den Kaninchenstall.
Einen ähnlichen Einfallsreichtum wie bei ihrem Personal beweist Tess Gunty bei den von ihr behandelten Themen. Immer wieder Gewalterfahrungen, strukturelle und persönliche, die Klimakrise, verwahrloste Kindheiten, Missbrauchserfahrungen unterschiedlicher Art, Klassenfragen, wirtschaftlicher Abstieg, Chancen(un)gleichheit, MeeToo, die Macht des Internets und und und. Ein wenig brummt der Leserin der Kopf angesichts der ganzen aufgetischten Absurditäten und skurrilen Situationen. Das Ganze präsentiert Tess Gunty in einem hohen Tempo, mit häufigen Perspektivwechseln, unterschiedlichen Textsorten, beigefügten Illustrationen, knappen Dialogen. Überbordend nennt man so etwas gerne. Und das ist noch kein Werturteil, weder in die eine noch in die andere Richtung.
Für mich persönlich allerdings war es von allem zu viel. Zu viele absonderliche Charaktere, zu viele skurrile Schicksale, zu viel Tempo, zu viel Sprachspielerei, zu viele Themen. Tess Gunty hat mit Der Kaninchenstall ganz sicher ein bewunderungswürdig originelles, gut geschriebenes, einfallsreiches und spannendes Buch geschrieben. Ich habe es auch nicht ungern gelesen und kann verstehen, dass die Kritiker:innen jubilieren. Mir allerdings kam es nicht nahe, sondern ließ mich ziemlich erschöpft und etwas entnervt zurück.
Beitragsbild von Pixabay
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Tess Gunty – Der Kaninchenstall
Übersetzt von: Sophie Zeitz
Kiepenheuer&Witsch Juli 2023, gebunden, 416 Seiten, € 25,00
Ein Gedanke zu „Tess Gunty – Der Kaninchenstall“