Julie Otsuka – Solange wir schwimmen

Als Julie Otsuka 2011 ihren zweiten Roman „Buddha in the attic“ (dt. Wovon wir träumten) veröffentlichte, war die Literaturwelt einhellig begeistert. Diese kollektive Wir-Perspektive, die das Schicksal sogenannter „Picture brides“ in den USA so zart, deutlich und ungeschönt schilderte, war etwas ganz Ungewohntes. Das Buch war für den National Book Award nominiert und erhielt den PEN/Faulkner-Award. Und war auch in Deutschland in der Übersetzung von Katja Scholtz ein großer Erfolg. Auch ich war hingerissen von diesem mir bisher nicht gekannten Erzählton. Über zehn Jahre musste das Lesepublikum warten, nun hat Julie Otsuka mit Solange wir schwimmen einen neuen, ihren dritten Roman vorgelegt. Und auch dieser startet wieder mit einer kollektiven „Wir“-Perspektive.

„Das Schwimmbad liegt tief unter der Erde, in einem riesigen Hohlraum viele Meter unter den Straßen unserer Stadt. Einige von uns kommen her, weil sie Verletzungen haben und gesund werden müssen. (…) Viele von uns wohnen in der Gegend und schwimmen einfach gern. Eine von uns – Alice, eine pensionierte Labortechnikerin in einem frühen Stadium von Demenz – kommt her, weil sie schon immer hergekommen ist.“

Das Schwimmbad unter der Erde

Es sind die Stammgäste dieses „Schwimmbades unter der Erde“ die hier wie in einem Chor sprechen und ihre Welt mit ihren Regeln, ihrer Routine vorstellen. Es ist eine Gemeinschaft von Individuen, aber hier im Wasser herrscht auch eine Art der Gleichheit.

„Denn für uns ist das Schwimmen mehr als nur ein Hobby, es ist unsere Leidenschaft, unser Trost, die Sucht unserer Wahl, das eine, worauf wie uns mehr freuen als auf alles andere.“

Und sie grenzen sich stolz ab gegen alle Gelegenheitsschwimmer oder solche, die sich nach ein paar Feiertagen und einigen Kilos zu viel als „plötzlicher Zustrom von Neulingen bemerkbar (machen), die wie die Verrückten schwimmen“.

In Kapitel 2 behält Julie Otsuka die Wir-Perspektive bei. Sie bekommt aber wie das Schwimmbad selbst einen Riss (so auch der Titel des Kapitels). Der Riss wird zunächst verleugnet, beobachtet, untersucht, verharmlost, ignoriert, treibt einige der Stammgäste davon. Die Gemeinschaft zerbröselt wie die Perspektive. Aus einem Riss wird ein ganzes Netz davon. Aus Sicherheitsgründen wird das Bad geschlossen. Dieses Kapitel ist wichtig und lässt zahlreiche Deutungsmöglichkeiten zu. So zeigt sich der Riss auch in Alices Persönlichkeit durch die zunehmende Demenz, aber ebenso in der Gesellschaft (Corona-Pandemie, soziale und politische Konflikte und Spaltungen).

Trotzdem habe ich mit diesem Kapitel etwas gehadert, zumal es im Vergleich zu den anderen recht lang ist. Ich finde, es passt nicht so ganz in den perfekten Bau des Romans, vor allem wegen seiner Dopplung der Wir-Perspektive, die hier zwar wie die Gemeinschaft zerfasert, aber eben doch eine Wir-Perspektive ist.  Mit seinen ganzen Personenanhäufungen und den unterschiedlichen Standpunkten, die blitzlichtartig aufscheinen und nur aneinandergereiht werden, hätte es deutlich gekürzt werden können oder sich aus Kapitel 1 heraus entwickeln müssen. Aber das ist nur eine kleine Kritik, weil der Roman ansonsten so perfekt gebaut ist.

Der verlorene Tag

Nach dem kurzen Dämpfer durch das zweite Kapitel, zieht Kapitel 3 „Diem perdidi“ die Leserin wieder völlig in seinen Bann. Julie Otsuka wählt nun die „sie“-Perspektive. Sie reiht aneinander, was Alice, die nun als Individuum dasteht – das Schwimmbad als Ort der Gemeinschaft blitzt in den Erinnerungen nur noch kurz auf -, alles vergessen hat und was sie noch weiß. Sehr berührend wird das langsame Entgleiten in die Demenzerkrankung geschildert. Die erste große, gescheiterte Liebe, der Tod der erstgeborenen Tochter direkt nach der Geburt, die Zeit während des Zweiten Weltkrieges, als die USA japanischstämmige Amerikaner internierten. Alice musste mit Mutter und Bruder ohne den Vater in der Wüste in einem Lager verbringen. Bestimmte Erinnerungen kehren immer wieder, verleihen dem Text einen ganz eigenen Rhythmus.

Die Perspektive verengt sich zunehmend, Alices Demenz schreitet voran. In Kapitel 4 übernimmt die Pflegeeinrichtung Belavista. Adressiert wird an ein „Sie“, die (zukünftige) Bewohnerin.

„Sie sind heute hier, weil Sie den Test nicht bestanden haben. (…) Willkommen im Belavista. Wir sind eine gewinnorientierte Langzeit-Pflegeeinrichtung, günstig gelegen auf einem früheren Parkplatz nahe dem Freeway, nur wenige Minuten von der Valley Plaza Mall entfernt.“

Ziemlich zynisch wird hier von der Unterbringung alter, dementer Menschen gesprochen. Das ist nicht böswillig, sondern nur realistisch. Und in dieser Realität unglaublich brutal.

„Abgesehen von ihrer Ärztin, die Sie einmal im Monat für drei Minuten besucht, um Ihre Medikamente abzusegnen, Ihre Akte dann direkt wieder zuklappt („Schön, Sie wiederzusehen!“) und zur Tür hinauseilt („Der Nächste, bitte!), werden sie ausnahmslos von erschöpften farbigen Frauen mittleren Alters betreut, die aus armen Ländern stammen und zwei oder drei Jobs haben, um ihre Miete zu bezahlen.“

Trauer und Verluste

Zack. Das sitzt. In Kapitel 5 sind wir dann bei Alices Tochter und in der „Du“-Perspektive, mit der diese sich selbst anspricht. Diese Tochter, die viele biografische Eckdaten mit der Autorin gemeinsam hat, denkt über ihre Mutter nach, über Erlebnisse mit ihr, ihre Besuche bei ihr, ihre Beziehung zu ihr. Und über ihre Versäumnisse. Es ist ein Kapitel der Verluste und der Trauer.

„Als sie dich fragte, warum ihr euch nicht nähersteht, hast du gesagt, du weißt es nicht. Du hast die Tür geschlossen. Du hast dich abgewendet. Du bist leise und still geworden, wie ein Tier. Du hast ihr das Herz gebrochen. Und du hast geschrieben.“

In ihren kurzen, rhythmischen Abschnitten, mit Wiederholungen, Aneinanderreihungen, mit vielen kleinen Absurditäten und leisem Humor, hat Julie Otsuka mit Solange wir schwimmen ein leises, zurückhaltendes, ein schonungsloses und philosophisches, ungemein berührendes Buch geschrieben. Es ist eines der eindrücklichsten Bücher, die ich in diesem Jahr gelesen habe, erneut übersetzt von Katja Scholtz. Und eine unbedingte Leseempfehlung!

 

Beitragsbild via pxhere

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Julie Otsuka – Solange wir schwimmen
Aus dem amerikanischen Englisch von Katja Scholtz
Mare Verlag August 2023, gebunden, 160 Seiten, € 22,00

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