„Nincs“ – ungar.: „Es gibt kein“. Nincshof – es gibt keinen Hof, kein Dorf, kein gar nichts. Zumindest nach der Legende gab es hier im äußersten östlichen Zipfel Österreichs, in der entlegensten Ecke des Burgenlandes, ganz nahe am Einser-Kanal, der an der Grenze von Österreich und Ungarn verläuft, offiziell jahrhundertelang nichts. Offiziell. Denn bevor der Einser-Kanal seit der Wende zum 20. Jahrhundert den ansonsten abflusslosen Neusiedlersee entwässerte und danach die südöstlich davon gelegenen Hanságsümpfe mehr und mehr trockengelegt wurden, lag dort der Legende nach (zumindest im vorliegenden Roman) eine von der Außenwelt unentdeckte Gemeinde, völlig autark, mit matriarchal verlaufenden Familienlinien, mit durch Holzstege über dem Moor verbundenen Pfahlbauten, versteckt im hohen Schilf. Augenzwinkernd, märchenhaft, verspielt erzählt Johanna Sebauer in ihrem Debütroman, wie einige Bewohner des (fiktiven) burgenländischen Dörfchens Nincshof diesen vermeintlich glücklichen, vergessenen Zustand wiederherstellen möchten.
Oblivisten
Oblivisten (lat. oblivere – vergessen) nennen sie sich. Der Bürgermeister gehört delikaterweise dazu, ein junger Außenseiter namens Valentin Salmerak und der uralte Sipp Sepp, man munkelt, er hätte die 100 schon weit überschritten. „Freiheit“ rufen diese selbsternannten Traditionalisten, fort mit den Zumutungen, die täglich aus aller Welt auch in diesen entlegenen Zipfel Österreichs vordringen, weg mit den ganzen Vorschriften und Einschränkungen durch „die da oben“ und draußen bleiben sollen all die, die so ganz anders sind als die Nincshofer, zum Beispiel die ganzen Radtouristen aus der Stadt mit ihren bunten Fahrradoutfits.
Das könnte herrlich satirisch sein und ist teilweise auch recht lustig. Wahrscheinlich ist es auch ungerecht, der jungen Autorin vorzuwerfen, dass die Haltung ihrer Oblivisten heutzutage eher einen schalen bis bedrohlichen Beigeschmack hat als nur liebenswert schrullig zu sein. Aber für mich feiert der Roman die Verschrobenheiten, die Kauzigkeit seiner Protagonisten zu sehr. In seiner heimeligen Harmlosigkeit blendet er alle gesellschaftlichen oder politischen Dimensionen aus. Völlig lächerlich und ignorant sind die drei Gestalten, aber werden doch eher liebevoll geschildert.
Ihnen schließt sich noch die fast achtzigjährige Erna Rohdiebel an. Sie ist „Anarchistin“ qua Geburt, denn ihre Großmutter hat einst den „Aufstand der Waschweiber“ gegen die Obrigkeit angeführt. Ihr selbst steckt dadurch die Anarchie anscheinend tief im Blut, schleicht sie doch nachts in den Nachbargarten und geht dort heimlich im Pool schwimmen. Harmlos ist das, wie eigentlich alles bei Johanna Sebauer. Auch die Namen der Protagonist:innen strahlen diese gewollte Drolligkeit aus: Erna Rohdiebel, Frederika Liebzipfel, Armina Karnelli, Sipp Sepp.
Zu viele Drolligkeiten
Trotzdem: Das Buch macht es den Leser:innen schwer, es nicht zu mögen. Es ist durchaus charmant geschrieben und sicher eine angenehm leichte Sommerlektüre. Auch die zugezogenen Städter dürfen in Nincshof nicht fehlen. Da ist die berühmte Dokumentarfilmerin Isa Bachgasser, die nach der Krebserkrankung ihres Mannes Silvano Mezzaroni mit diesem und der heranwachsenden Tochter die alte Dorfmühle wieder flott macht. Der ehemals erfolgreiche Architekt Silvano hat als Rehabilitationsmaßnahme nun die Irrziegenzucht für sich entdeckt und bringt auch einiges an groteskem Humor in die Geschichte.
Südamerikanische, während des Gebärens leuchtende Irrziegen, reichlich Pusztafeigenschnaps, ein Schwein, das im Krippenspiel die Rolle des Jesuskindes übernimmt – Johanna Sebauers Einfallsreichtum ist enorm. Leider erschöpft er sich in niedlichen Details und harmlosen Verstiegenheiten. Soziologisch oder politisch wird hier wie gesagt nichts betrachtet. Und dass es verschiedene Wahrheiten gebe – diese Aussage ist vielleicht auch nicht ganz falsch, hat aber für mich auch wieder diesen etwas unangenehmen Beigeschmack (siehe oben).
Man kann das Ganze natürlich auch ausschließlich als sommerleichte, humorvolle Groteske lesen. Wer hätte nicht auch schon mal den Wunsch verspürt, sich gegen alles „da draußen“ abzusperren und die Welt zu verlangsamen. Dann hat man sicherlich einen unterhaltsamen, charmanten Roman entdeckt. Mir ist das leider nicht gelungen, ich habe mich an den unbedingt liebenswert sein wollenden Kauzigkeiten gerieben, mir war alles zu harmlos und eine gesellschaftspolitische Betrachtung habe ich vermisst. Mir ist dadurch wohl ein Großteil des Lesevergnügens verwehrt geblieben.
Beitragsbild: GeorgDerReisende, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
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Johanna Sebauer – Nincshof
Dumont Juli 2023, 368 Seiten, Gebunden, € 23,00