Spät, sehr spät kommt er, der Überblick über meine im Juli 2023 gelesene Lektüre. Vielleicht interessiert es ja noch den einen oder die andere. Der Vollständigkeit halber (und weil mein innerer Blog-Monk das sowiso fordert) ist er hiermit nachgereicht.
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Ayòbámi Adébáyò – Das Glück hat seine Zeit
Zwei Familien stehen im Mittelpunkt des Romans, die aus zwei völlig verschiedenen Milieus stammen. Der Vater des Jungen Eniola wurde nach einem der vielen Machtwechsel als Lehrer entlassen. Das einigermaßen wohlhabende Leben und das Ansehen, das der Familie zuteilwurde, sind dahin. Dabei hat Baami immer an den Aufstieg durch Bildung geglaubt, daran, dass man durch Strebsamkeit und Anstand ein Auskommen findet.
Yeye stammt aus einer einflussreichen Familie und ist mit dem erfolgreichen Unternehmer Otunba Makinwa verheiratet, der Beziehungen in die höchste Kreise hat. Status und Ansehen sind ihr so wichtig wie sein beträchtliches Vermögen. Sie führt ein Luxusleben. Anders hält es ihre älteste Tochter Wuraola, die nach ihrem Medizinstudium als Assistenzärztin in der Klinik arbeitet. Anpassung, Ehrgeiz, Pflichterfüllung verheißen ihr Erfolg im Beruf und schließlich, anders als bei ihrer Mutter, Selbstständigkeit und Emanzipation als Frau.
Zunehmend spannend und immer mehr Fahrt aufnehmend legt Ayòbámi Adébáyò in Das Glück hat seine Zeit die politischen Intrigen, die Korruption und vor allem die in allen Ebenen der Gesellschaft herrschende Gewalt in Nigeria bloß. Die marode Gesellschaft, die nach außen Parteiendemokratie, Wirtschaftswachstum und Entwicklung propagiert, ist zutiefst gewalttätig und ungerecht. Laut des International Monetary Fund leben 32 % der Bevölkerung Nigerias in extremer Armut. Frauen werden unterdrückt und marginalisiert. Im nigerianischen Parlament findet man lediglich 29 Frauen neben 440 Männern.
Ayòbámi Adébáyòs Protagonisten suchen alle nur ihr eigenes kleines Glück, ein wenig Zufriedenheit. Sie sind keine Held:innen oder Aktivist:innen. Aber selbst das wird ihnen verwehrt. Überhaupt nicht kitschig, wie der Titel des Romans vielleicht vermuten ließe, erzählt die Autorin von ihnen, berührend, manchmal auch ein wenig sentimental, aber immer präzise und spannend. Viele interessante Nebenfiguren und ihre Schicksale weiten die Tragödie um Wuraola, Eniola und ihre Familien zu einem mitreißenden Gesellschaftspanorama Nigerias.
Penelope Mortimer – Bevor der letzte Zug fährt
Penelope Mortimers 1958 erschienener Roman liegt zum ersten Mal in der Übersetzung von Kristine Kress vor. Und das erstaunt angesichts der literarischen Qualität sehr. Andererseits berührt der Text Themen, von denen man zur damaligen Zeit sicher nicht unbedingt lesen wollte. Die 1918 geborene Journalistin und sechsfache Mutter von Kindern unterschiedlicher Väter spricht in Bevor der letzte Zug fährt ein in der damaligen Zeit stark mit Tabus behaftetes Thema an: die ungewollte Schwangerschaft und deren Beendigung.
Die 37jährige Ruth Whiting lebt mit ihrer Familie in der Nähe von London auf dem Land. Ein schönes, gepflegtes Haus, den gutaussehenden Zahnarzt Rex zum Mann, eine fast erwachsene Tochter und Zwillingssöhne, dazu eine nette Nachbarschaft – eine scheinbare Traumexistenz, hinter deren Fassade wie so oft das Grauen herrscht. Pendlerzüge transportieren aus diesem Suburbia jeden Morgen die Männer Richtung Stadt, zurück bleiben die Frauen und Kinder, oftmals gelangweilt, ungeliebt, hoffnungs- und trostlos.
Die 18jährige Tochter Angela sucht die Hilfe ihrer Mutter, zu der sie ansonsten ein eher angespanntes Verhältnis hat, als ihr das passiert, was zu der Zeit die größte Sorge aller unverheirateten Mädchen ist: sie ist schwanger. Natürlich wollen weder sie noch der das Kind und auch Ruth setzt alle Hebel in Bewegung, damit ihrer Tochter das eigene Schicksal einer zu frühen Schwangerschaft und einer ungeliebten Pflichtehe erspart bleibt. Ihr erwächst angesichts der Lage ihrer Tochter und deren Apathie eine ungeahnte Kraft.
Die öde, trostlose Welt der Vorstädte, die oft ausweglose Lage der Ehefrauen und Mütter, die selbstherrliche, anmaßende und oft pflichtvergessene Haltung der Männer und immer und vor allem muss die Fassade gewahrt werden – das erfasst die Autorin kühl analytisch, aber auch sehr unterhaltsam, stilistisch brillant und ironisch-sarkastisch mit überzeugenden Dialogen und einer ordentlichen Portion Situationskomik. Ich hoffe sehr, dass noch weitere Romane von Penelope Mortimer neu oder erstmals übersetzt werden. Für mich ist sie eine der großartigen Wiederentdeckungen dieses Jahres.
Caroline Wahl – 22 Bahnen
Diesen sehr gelobten Debütroman der jungen Autorin Caroline Wahl habe ich nach knapp der Hälfte zunächst zur Seite gelegt. Ich tue mich recht schwer mit dem Abbrechen von Büchern, aber hier hat mich weder die Sprache (kunstlos, flappsig), noch die Charaktere oder der Inhalt überzeugt. Mal schauen, ob ich dem Buch noch eine zweite Chance geben werde.
Tess Gunty – Der Kaninchenstall
Mittelpunkt von Der Kaninchenstall ist ein Apartmenthaus in einer Stadt im US-amerikanischen Rustbelt. Wie mit einer Kamera schaut Gunty in die verschiedenen Wohnungen hinein, deren Bewohner:innen größere oder kleinere Rollen im Erzählten einnehmen. Zentrum ist Apartment C4, in dem, wir erfahren es gleich am Anfang, Blandine Watkins, eine 18jährige ätherische Schönheit „ihren Körper verlässt“. Ein Großteil der bis zum Ende andauernden Spannung bezieht der Roman aus der Frage, was in jener „heißen Nacht“ mit der jungen Frau passiert ist und was uns Tess Gunty dazu auf den nächsten über 400 Seiten enthüllt.
Allerhand skurrile Figuren bevölkern den Kaninchenstall und einen ähnlichen Einfallsreichtum wie bei ihrem Personal beweist Tess Gunty bei den von ihr behandelten Themen. Immer wieder Gewalterfahrungen, strukturelle und persönliche, die Klimakrise, verwahrloste Kindheiten, Missbrauchserfahrungen unterschiedlicher Art, Klassenfragen, wirtschaftlicher Abstieg, Chancen(un)gleichheit, MeeToo, die Macht des Internets und und und. Ein wenig brummt der Leserin der Kopf angesichts der ganzen aufgetischten Absurditäten und skurrilen Situationen. Das Ganze präsentiert Tess Gunty in einem hohen Tempo, mit häufigen Perspektivwechseln, unterschiedlichen Textsorten, beigefügten Illustrationen, knappen Dialogen. Überbordend nennt man so etwas gerne. Und das ist noch kein Werturteil, weder in die eine noch in die andere Richtung. Für mich persönlich allerdings war es von allem zu viel. Zu viele absonderliche Charaktere, zu viele skurrile Schicksale, zu viel Tempo, zu viel Sprachspielerei, zu viele Themen. Tess Gunty hat mit Der Kaninchenstall ganz sicher ein bewunderungswürdig originelles, gut geschriebenes, einfallsreiches und spannendes Buch geschrieben. Ich habe es auch nicht ungern gelesen und kann verstehen, dass die Kritiker:innen jubilieren. Mir allerdings kam es nicht nahe, sondern ließ mich ziemlich erschöpft und etwas entnervt zurück.
Javier Cercas – Blaubarts Burg
Der 3. Teil der Terra Alta Krimi-Reihe von Javier Cercas
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Melchor Márin ist nach Etappen in Barcelona, nach einer glücklichen Ehe und dem tragischen Tod seiner Frau Olga aus dem Polizeidienst ausgeschieden und arbeitet nun als Provinzbibliothekar. Hier kann er seine Liebe zur Literatur ausleben, die er während einer Haftstrafe durch die Lektüre von Victor Hugos Roman „Die Elenden“ entdeckt hat – Melchors Vorgeschichte wird ausführlich, aber nicht ungeschickt in den neuen Roman hineingewebt, so dass auch Cercas-Neulinge mithalten können. Sein Leben mit der 17jährigen Tochter Cosette verläuft ruhig, aber glücklich. Nur die hartnäckigen Nachfragen Cosettes zum Tod ihrer Mutter, der kein Unfalltod war – wie man ihr immer gesagt hatte – beschäftigen ihn doch sehr. Deswegen ist er auch sehr beunruhigt, als Cosettes Freundin Elisa vom gemeinsamen Urlaub auf Mallorca allein zurückkommt. Zuerst vermutet er, dass sie sich aus Wut über sein langes Schweigen von ihm zurückziehen will und auch die eingeschaltete Guardia Civil auf der Insel wiegelt ab. Da die Umstände aber immer dubioser werden, auch Elisa keine Nachrichten mehr empfängt und sich die Spur von Cosette verliert, reist Melchor nach Mallorca und forscht dort selbst nach.
Es geht wie immer bei Cercas um gesellschaftliche und politische Verwerfungen, darum, wie durch Korruption und Filz eine ganze Gesellschaft unterhöhlt werden kann, Recht und Gerechtigkeit käuflich werden.
Javier Cercas hat sich mit diesem dritten Teil warm geschrieben. Ich bin gespannt, ob es tatsächlich bei der Trilogie bleibt. Ich wäre zumindest einem Band 4 nicht abgeneigt.
Der Legende nach hätte eine von der Außenwelt unentdeckte Gemeindejahrhundertelang völlig autark, mit matriarchal verlaufenden Familienlinien, mit durch Holzstege über dem Moor verbundenen Pfahlbauten, versteckt im hohen Schilf in einer entlegenen Ecke des österreichischen Burgenlandes existiert und sei erst durch Trockenlegung der dortigen Sümpfe der Außenwelt aufgefallen. Augenzwinkernd, märchenhaft, verspielt erzählt Johanna Sebauer in ihrem Debütroman, wie einige Bewohner des fiktiven Dörfchens Nincshof diesen vermeintlich glücklichen, vergessenen Zustand wiederherstellen möchten.
Das könnte herrlich satirisch sein und ist teilweise auch recht lustig. Aber für mich feiert der Roman die Verschrobenheiten, die Kauzigkeit seiner Protagonisten zu sehr. In seiner heimeligen Harmlosigkeit blendet er alle gesellschaftlichen oder politischen Dimensionen aus. Völlig lächerlich und ignorant sind die drei Gestalten, aber werden doch eher liebevoll geschildert. Das Buch macht es den Leser:innen schwer, es nicht zu mögen. Es ist durchaus charmant geschrieben und sicher eine angenehm leichte Sommerlektüre. Wer mehr von einem Buch verlangt, bleibt vielleicht ähnlich enttäuscht wie ich zurück.
Michel Bergmann schreibt in seinem Buch über die ganz besondere Beziehung zu seiner Mutter. Eine sehr liebevolle, enge, aber auch sehr übergriffige, einengende Beziehung zu einer beeindruckenden, aber auch schwierigen Frau. Charlotte hat ihre gesamte Familie im Holocaust verloren, hat ihre hoffnungsvolle Jugend wie unzählige andere durch die Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten verpasst und nur durch ein Wunder überlebt. Traumata, Erinnerungen, Selbstvorwürfe quälen sie wie viele andere Überlebende. Ihr Ein und Alles wird der Sohn, zu dem sie nach dem frühen Tod des Vaters eine zunehmend toxische Beziehung aufbaut, aus der sich der Sohn nur schwer befreien kann. Ambivalent sind seine Gefühle. Und das kann dieser Text großartig transportieren. Eindrucksvoll, zart und unerbittlich, sehr berührend schildert der Autor die Geschichte einer schillernden Frau, seine eigene Kindheit und Jugend, die Hassliebe, die ihn mit seiner Mutter verbindet, und seine schwierige, nie ganz gelingende Loslösung, nicht chronologisch, sondern eher assoziativ. Ein wunderbares Buch!
Außerdem habe ich noch für das Literaricum Lech ein weiteres Mal Stolz und Vorurteil von Jane Austen gelesen sowie Die Freiheit, allein zu sein von Sarah Diehl und Mon Chérie und unsere demolierten Seelen von Verena Rossbacher, die auch in Lech waren. Letzteres ein herrlich amüsanter roman, zu dem ich später noch einen Beitrag bringen werde.