Susan Choi – Vertrauensübung

Selten hat mich ein Buch so zwiegespalten zurückgelassen wie der mit dem National Book Award ausgezeichnete und nun in der Übersetzung von Tanja Handels und Katharina Martl bei Kjona erschienene Roman von Susan Choi, Vertrauensübung. Einhellige Begeisterung herrscht bei mir allerdings über die Gestaltung des Buchs. Der sich vor allem für Nachhaltigkeit in der Buchproduktion engagierende Kjona Verlag macht einige der schönsten Bücher, die derzeit im Handel sind. Trendige Veredelungen wie Lacke oder Farbschnitte werden aus Umweltschutzgründen nicht verwendet, dafür jubelt mein Bücherherz angesichts des klaren Designs, des hochwertigen, alterungsbeständigen Papiers und vor allem der Fadenheftung. Ganz große Begeisterung!

Der fünfte Roman der Amerikanerin Susan Choi, der auch auf Barack Obamas berühmter Sommerleseliste stand, hat es mir mit meinem Urteil nicht ganz so leicht gemacht. Ich muss zugeben, dass ich zu Beginn sogar einen Abbruch erwähnt habe, da ich der Autorin bestimmte Handlungsbestandteile und Charaktere einfach nicht abgenommen habe. Nach und nach wurde mir aber klar, dass nicht nur der Titel des Romans, sondern das ganze Buch eine Art Vertrauensübung der Autorin Susan Choi mit ihrem Lesepublikum darstellt. Und dann war ich schon sehr, wenn auch nicht restlos begeistert.

Citywide Academy for the Perfomative Arts

Worum geht es? Zunächst scheint es einer jener typischen Highschool- oder Collegeromane zu sein, die man gerade aus den USA kennt. Die Citywide Academy for the Perfomative Arts, kurz CAPA genannt, ist eine Elite-Highschool mit Schwerpunkt Darstellende Künste in einer südlich gelegenen Stadt. Vieles deutet darauf hin, dass es sich um Houston/Texas handelt, wo Choi selbst als Jugendliche lebte. Zu Beginn des Buchs befinden wir uns in den 1980er Jahren und begleiten eine Klasse bzw. einiger ihrer Schüler:innen, die schließlich „Sophomores“ sind, etwas, was man mit unseren Zehntklässlern vergleichen kann. Also Jungen und Mädchen von ca. 14 bis 16 Jahren.

Und hier begann mein anfängliches Problem mit dem Buch, denn diese Schüler:innen waren für mich (und vielleicht bin ich da auch nur sehr naiv) alle nicht altersgemäß, sondern extrem frühreif. Zwei von ihnen, Sarah und David, verstrickten sich gleich zu Beginn ihrer Schullaufbahn in eine heftige, vorwiegend körperliche Affäre. Dass es Jugendliche in diesem Alter wirklich im Schulflur vor dem Musikzimmer und in allen Heckenecken des Schulgeländes treiben, darüber hinaus aber keine Form der Beziehung zueinander suchen bzw. finden, konnte ich dem Buch nicht wirklich abnehmen. Und wenn einmal der Zahn des Zweifels an mir nagt…

Vertrauensübungen

Singen, Tanzen, Schauspielern – für letzteres vor allem ist der charismatische Lehrer Mr. Kingsley aus New York zuständig. Von anderen Unterrichtsaktivitäten bekommen wir nicht viel mit. Dafür viel von Kingsleys Anforderungen an die Schüler:innen und die Übergriffigkeit, die dort anscheinend normal ist. Zurschaustellung, emotionaler Missbrauch, ein rigides Zeitmanagement – für mich auch nicht überzeugend, dass das schon so jungen Menschen zugemutet wird und niemand, außer vielleicht ganz zaghaft Sarahs Mutter – dagegen protestiert. Dass solche krassen Methoden an Theaterschulen durchaus üblich sind, ist mir bekannt, aber an solch jungen Schüler:innen, von denen es auch heißt, „ihre emotionale Reife bleibt hinter ihrer körperlichen Entwicklung zurück“? Teil dieser Methoden sind sogenannte „Vertrauensübungen“, die vor allem für das Teambuilding verwendet werden.

Neue Münchner Schauspielschule, by Vincent Kraupner, CC0, via Wikimedia Commons
Überforderung

Sarah, die mit ihrer alleinerziehenden Mutter in eher einfachen Verhältnissen lebt, zu Intensität, Drama und Selbstqual neigt, kommt mit der Situation deutlich weniger gut klar als der aus sehr reichen Elternhaus stammende, selbstbewusste und umschwärmte David. Aber deutlich ist, dass beide von der Situation, den Ansprüchen der Schule und ihrer obsessiven Liebesbeziehung heillos überfordert sind. Die Situation eskaliert, als eine gleichaltrige Theatergruppe einer englischen Partnerschule eintrifft. Dass diese Partnerschule Voltaires Candide vor der versammelten Elternschaft derart freizügig und experimentell aufführt, „sie mimten Vergewaltigen und Vergewaltigtwerden, und einvernehmliche Ficks – dem Anschein nach vor allem sowohl erzwungene wie auch einvernehmliche Arschficks“, wohlgemerkt vor den Eltern der 15 – 16 Jährigen, das nehme ich der Geschichte einfach nicht ab. Nun gut. Es kommt darüber hinaus auch zu Übergriffen zwischen den Schülerinnen und dem englischen „Lehrkörper“. Der erste Teil bricht hier zur Verwunderung der Leserin recht abrupt ab.

Zweiter Teil

Zweiter Teil Vertrauensübung, und so langsam ahne ich, was Susan Choi im Sinn hat. Mein skeptisches Interesse ist geweckt, meine Abwehr sinkt. Denn hier, nach etwa der Hälfte des Buchs wird klar, dass wir es beim ersten Teil mit einem Buch im Buch zu tun haben. Sarah ist – wir befinden uns jetzt  14 Jahre später – nicht darstellende Künstlerin, sondern Autorin geworden, die über ihre Zeit auf der CAPA ein autofiktionales Buch geschrieben hat. Wir haben es also in Teil 1 mit einer ziemlich unzuverlässigen Erzählerin zu tun. Das versöhnt ein wenig mit einigen der von mir angezweifelten Begebenheiten.

Karen, eine in diesem ersten Teil eher am Rande erwähnte Mitschülerin, übernimmt nun die Erzählperspektive. Sie war, anders als in Sarahs Buch dargestellt, wohl deren engste Freundin und entlarvt viele der Schilderungen als falsch. Besonders die Namen und die Beziehungen zwischen den Schüler:innen waren wohl ganz anders als geschildert. Sie selbst erscheint aber auch als eher unzuverlässige Erzählinstanz, auch wenn sie natürlich durch die zusätzlichen Lebensjahre gereifter erzählt.

Eine andere Perspektive

Karen, die in Wirklichkeit natürlich nicht Karen heißt und deren Perspektive in Teil 2 zwischen „Karen“ und „ich“, also der dritten und ersten Person abwechselt, erzählt vom eigenen Missbrauch, davon, wie „Sarah“, die natürlich auch nicht so heißt, diesen Teil der Geschichte in ihrem Buch einfach unterschlagen hat. Ein Zusammentreffen von ihr, „David“, „Sarah“ und „Martin“, dem ehemaligen Leiter der englischen Schultheatergruppe, spitzt die Situation zu. Was man als Leserin hier wieder glauben kann oder nicht, ist erneut ungewiss. Und macht einen großen Reiz des Romans aus, der nun seinerseits zur „Vertrauensübung“ zwischen Autorin Susan Choi und den Lesenden wird. Sicher ist, dass ein oder besser gesagt das zentrale Thema des Buches der Missbrauch von Machtverhältnissen und von jungen Menschen ist, die zwar behaupten niemals wirklich Kinder gewesen zu sein, dies aber in vielen Bereichen eben doch waren.

In Teil 3 sind wir dann im Jahr 2013 angekommen und wieder taucht eine neue Perspektive auf das Erzählte auf und dreht alles noch einmal auf links. Ein Spiel mit den Perspektiven, gewagte Wendungen, die Leser:innen, die sich gern in eine Geschichte hineinsaugen lassen, munter wieder hinauskatapultieren und ihr Vertrauen in die Autorin auf die Probe stellen und das alles kombiniert mit dem hochsensiblen und aktuellen Thema des Missbrauchs – meine Bedenken vom Anfang der Geschichte sind nicht völlig vom Tisch, aber angesichts der genialen Wendungen und des intelligenten Aufbaus des Romans, ziemlich in den Hintergrund getreten. Deshalb eine eindeutige Leseempfehlung.

 

Weitere Besprechungen findet ihr bei Ines Letteratura, Bookster HRO und der Kulturbowle

 

Beitragsbild: „Agamemnon“_2008_Studiobühne_Siegburg.jpg: Schauspielschule Siegburgderivative work: Hic et nunc, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

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susan-choi-vertrauensuebung.

Susan Choi – Vertrauensübung
Aus dem Amerikanischen von Tanja Handels und Katharina Martl
Kjona Verlag August 2023, 352 Seiten, Gebunden, Fadenheftung, 25,00

 

 

Ein Gedanke zu „Susan Choi – Vertrauensübung

  1. Vielen Dank für das Verlinken!
    Es ist interessant zu sehen, welche Leseerfahrungen auch andere mit diesem Roman durchlaufen haben. Denn auch mir hat es das Buch bei der Lektüre nicht leicht gemacht. Es dauert bis man Zugang bekommt und ich war letztlich erleichtert, eine gewisse Distanz zu den Figuren wahren zu können. Herzliche Grüße!

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