„Ben Neven und seine Kolleg:innen sind an einem Punkt angelangt, an dem der Autor sie (und die Leser:innen) nicht einfach allein lassen kann. Ihre Geschichte ist noch nicht auserzählt.“ So habe ich meine Rezension zum Vorgängerroman Am roten Strand beendet. Nun hat Jan Costin Wagner mit Einer von den Guten einen dritten Roman über den Ermittler Ben Neven geschrieben, der am Ende zwar auch fast alles in der Schwebe lässt, aber dennoch einen zufriedenstellenden Abschluss der Reihe bildet.
2020 erschien der erste Teil einer neuen Kriminalserie, nachdem Jan Costin Wagner seine sehr erfolgreiche Reihe um den grüblerischen, verschlossenen Kimmo Joentaa beendet hat. Im Mittelpunkt von Sommer bei Nacht stand die Ermittlergruppe um den Wiesbadener Kriminalbeamten Ben Neven, glücklich verheiratet, eine Tochter. Zusammen mit den Kollegen Christian Sandner, Mark Lederer und Maren Kramer, ergänzt durch die Polizeipsychologin Christina Gerst und mit vielen Ratschlägen von seinem Freund und ehemaligen Mentor, dem Ex-Polizisten Ludwig Landmann, ermittelte Neven in den beiden ersten Büchern in einem an reale Ereignisse angelehnten Fall rund um einen Pädophilen-Ring. Tief getroffen von der Gewalt, die kleinen Jungen angetan wurde, merkt man als Leserin sehr bald, dass die ganze Geschichte allmählich eskaliert und aus dem Ruder läuft.
Am Ende von Teil zwei hat Ben Neven seine eigenen pädophilen Neigungen, denen er zunächst nur im Internet folgt, zunehmend nicht mehr unter Kontrolle. In Dortmund, in der Nähe eines Spaßbades entdeckt er auf dem dortigen Pädophilen-Strich den Jungen Adrian, den er für seine sexuellen Dienste bezahlt und fortan alle zwei Wochen aufsucht.
Ein zerrissener Charakter
Ben Neven ist sich der Schändlichkeit und vor allem der möglichen beruflichen und privaten Konsequenzen seines Tuns bewusst, verachtet die Täter seiner eigenen polizeilichen Ermittlungen zutiefst, kann aber seinem eigenen Verlangen keinen Riegel vorschieben. Stattdessen spricht er für sich von „seinem Jungen“, redet sich dessen Zuneigung und das einvernehmliche Tun mit dem 13jährigen ein. Die „Beziehung“ zu Adrian wird immer mehr zur Obsession, belastet seine Arbeit, von der er sich bald freistellen lässt, und auch die Familie, denn natürlich darf Ben sich nicht outen. Innere Qualen nehmen zu, ein Selbstmordversuch scheitert knapp.
Da Ben an den polizeilichen Ermittlungen, die sich aktuell auf einen Pfarrer im Pädophilenring konzentrieren, nicht mehr aktiv teilnimmt, kann man kaum noch davon sprechen, dass Jan Costin Wagner mit Einer von den Guten einen Kriminalroman geschrieben hat. Aber auch schon in den beiden ersten Teilen spielten die Ermittlungen (bei denen es zudem oft ein wenig in der Logik knirschte) nur eine untergeordnete Rolle. Im neuen Band hat die Psychologisierung die eindeutige Überhand und entwickelt einen beachtlichen Sog. Wie die Hauptfigur der vorherigen Reihe, Kimmo Joentaa, der unter dem Tod seiner Frau litt, steht auch Ben Neven auf der Kippe, ist kräftig angeschlagen.
Unterschiedliche Perspektiven
Jan Costin Wagner gibt sowohl Ben Neven als auch dem Jungen Adrian eine Erzähl-Perspektive (eine winzige Sequenz gehört auch Maren Kramer, warum auch immer). Die beiden unterscheiden sich erwartungsgemäß beträchtlich. Während Ben sich eine freundschaftliche, einvernehmliche Beziehung zu dem Jugendlichen einredet, leidet dieser darunter, illegal in Deutschland zu leben, vom eigenen Vater und dessen Kumpan zur Prostitution gezwungen zu werden und versteht das Desinteresse der in Rumänien zurückgebliebenen Mutter nicht. Nur die 14jährige Vera, die ihm freundschaftlich zugetan ist, erhellt sein Elend ein wenig.
Kurze, schmucklose Sätze, knappe Dialoge und vieles, was nur angedeutet wird – der typische Sound von Jan Costin Wagner herrscht auch in Einer von den Guten. Am Ende löst sich nichts auf, die Sicht auf Hauptprotagonist Ben Neven wird noch problematischer. Vermutlich wird er sich weiterhin einreden einer von den Guten zu sein, vielleicht gelingt es Adrian tatsächlich mit Hilfe von Vera und ihrer Familie, seinem Vater zu entkommen. Ein vierter Teil ist zumindest nicht angedacht, so Wagner im Interview. Die Leserin ist mit dem Ende dieses Mal zufrieden.
Beitragsbild: Jérémy-Günther-Heinz Jähnick / Bellewaerde Aquapark (D12) / Wikimedia Commons
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Jan Costin Wagner – Einer von den Guten
Galiani-Berlin August 2023, gebunden, 208 Seiten, € 23,00