Birgit Mattausch – Bis wir Wald werden

Ein Hochhaus als zentraler Handlungsort und sogar als eine Art Protagonist – das ist jetzt nicht unbedingt ganz neu. Bei der Lektüre von Bis wir Wald werden von Birgit Mattausch musste ich häufig an Karosh Tahas Beschreibung einer Krabbenwanderung denken. Und erst vor kurzem erschien der US-amerikanische Bestseller Kaninchenstall von Tess Gunty, der im gleichnamigen Wohnkomplex angesiedelt ist. Aberso unterschiedlich Häuser und darin lebende Menschen sind, so unterschiedlich sind auch die Romane. Meist sind es die eher einkommensschwachen Bevölkerungsschichten, die im Hochhaus wohnen, viele Migrant:innen und ältere Menschen mit kleinem Geldbeutel, die die Annehmlichkeiten wie Aufzug, Ebenerdigkeit etc. zu schätzen wissen. Aber meist haben Hochhäuser keinen guten Ruf, wird ihre Anonymität beklagt, ihre angebliche Kälte, gelten sie oft als soziale Brennpunkte. Dass sie auch Heimat, Gemeinschaft und Geborgenheit bedeuten können, hat Birgit Mattausch erlebt, als sie selbst als Pfarrerin in einem solchen Wohnkomplex, in dem besonders viele russlanddeutsche Migrant:innen lebten, wohnte.

Nanush und Babulya

Hauptfiguren in Bis wir Wald werden sind Nanush und ihre Urgroßmutter Babulya. Mit der noch ganz kleinen Nanush ist Babulya einst aus Sibirien nach Deutschland ausgereist und über das Sammellager Friedland schließlich im Hochhaus am Waldrand gelandet. Nun ist Babulya sehr alt und Nanush lebt schon längst in einer eigenen Wohnung ganz oben, die Bindung zwischen beiden ist aber weiterhin sehr eng. Die alte Frau ist auch irgendwie die gute Seele der vorwiegend russlanddeutschen Hausgemeinschaft. Warum sie einst nur mit ihrer Urenkelin emigriert ist, was mit Nanushs Mutter ist (vermutlich tot) oder mit deren Mutter, Babulyas Tochter (vermutlich stramm russlandtreu) lässt Birgit Mattausch ein wenig in der Schwebe. Wie sie so manches zwischen den Zeilen unausgesprochen lässt.

Familie sind für Nanush die Bewohner des Hochhauses, manche weniger, wie beispielsweise die Baptistenfamilien mit ihren hauchdünnen Kopftüchern oder das Hausmeisterehepaar Rappard, andere mehr, wie ihr Onkel Wladi mit den politisch nicht ganz korrekten Ansichten, ihre Altersgenoss:innen Vitali, Nelli und der ins Drogenmilieu abgerutschte Gregorij und Oma Elsa mit dem Deutsch aus dem 18. Jahrhundert, weil sie nie richtig Russisch und schon gar nicht Hochdeutsch gelernt hat. Ihr „Dialekt“ ist sehr stimmungsvoll getroffen. Und so schwätzen sie alle, diskutieren, kochen viel, sind sich nah. Sie alle haben die gleiche familiäre Vergangenheit, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg als „Deutsche“ umgesiedelt, verfolgt, drangsaliert.

Fascisti

„Jetzt waren wir die Russen. Die ersten dreißig Jahre etwa waren wir das. Bis einige von uns anfingen, eine Partei zu wählen, die kein Problem hatte mit Fascisti, Putin und dem Gedanken, dass der deutsche Boden mehr war als Asphalt und Wiese. Wir wurden russische Fascisti oder: faschistische Russen oder: die, die man aufgenommen hat wegen eines deutschen Schäferhundes im Stammbaum und die jetzt …

Wie können sie so dumm sein und die wählen! (Ich. Zu Vitali. Zu Babulya. Zu Nelli. Oma Elsa.)

Lass die Männr ieber Palietijk rede, Nanushka! (Oma Elsa)

Haben wir noch Tee im Haus, Kätzchen? Geh schauen für mich. (Babulya)

Weil sie alles glauben, was auf Facebook steht. (Nelli)

Ach, Nanush, du kennst sie doch. (Vitali)

Nicht alle sind so. (Lilli)

Onkel Wladi frage ich nicht. Ich will die Antwort nicht hören“

Babulya ist nicht nur für Nanush das Zentrum dieser Gemeinschaft. Aber nun wird sie immer schwächer, blasser, ein bisschen tüddelig. Aber immer noch erzählt sie ihre Geschichten. Geschichten von der Weite Sibiriens, vom Wald, von den Tieren und ihrem im Krieg gebliebenen Mann. Magisch sind manche Geschichten. Und ein wenig Magie lässt Birgit Mattausch auch durch Bis wir Wald werden hindurchwehen. So sitzt an der Bushaltestelle vor dem Hochhaus stets die Frau mit dem roten Kopftuch, die meistens schweigt, für viele Bewohner aber eine Art Hafen, eine Anlaufstelle darstellt. Ein wenig ist sie die weise Alte aus dem Märchen, die gute Fee, die Zauberin.

Sehr feinfühlig, poetisch, leise schreibt Birgit Mattausch über diese ganz besondere Hausgemeinschaft, über die Geschichte, die Geschichte der Russlanddeutschen. Nie belehrend, sondern so, dass man gern mehr darüber erfahren möchte, nachschlägt, googelt. Und sehr zart schreibt sie über die starke Bindung zwischen Urgroßmutter und Urenkelin, über das bevorstehende Abschiednehmen und das langsame Verlöschen eines geliebten Menschen. Ein sehr schönes Buch, eine Entdeckung!

 

Beitragsbild via pxhere


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Birgit Mattausch – Bis wir Wald werden
Klett-Cotta August 2023, 176 Seiten, gebunden, € 20,00

 

 

 

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