Karen Gershon – Das Unterkind

Schon sehr früh fühlt sich die kleine Käthe Löwenthal (der Geburtsname von Karen Gershon) als das Unterkind der wohlhabenden jüdischen Familie aus Bielefeld. Die beiden Schwestern, die sehr bewunderte Anne und die vielgeliebte Lise sind zwei bzw. ein Jahr älter. Und schon seit jüngsten Jahren

„hetzt (sie) sich ab, physisch, aber auch im übertragenen Sinn, um ihre Schwestern einzuholen. Die Tatsache, dass es ihr nie gelang, hat sie wohl zu der Überzeugung gebracht, ein Unterkind zu sein, und das schon vor ihrem zehnten Lebensjahr, in dem die Nazis an die Macht kamen.“

Um wieviel mehr wird sich dieses Gefühl nach dem Januar 1933 festsetzen, als jüdische Mitbürger:innen nach und nach immer mehr aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen werden, die Repressionen immer mehr zunehmen und die systematische Verfolgung beginnt. Sowohl Käthe als auch ihre beiden Schwestern können 1938 mit einem der letzten Kindertransporte nach England entkommen. Die 1923 geborene Käthe bleibt mit einer Zwischenstation in Israel in Großbritannien und veröffentlicht dort Lyrik, Prosa und ihr bekanntestes Werk, die „kollektive Autobiografie“ Wir kamen als Kinder. Wie ihre Tochter Naomi Shmuel in ihrem Nachwort schreibt, hat Karen Gershon lange nach einer Form für eine Autobiografie gesucht, bis 1992 Das Unterkind zunächst auf Deutsch, 1993 kurz nach Karens Tod auch auf Englisch erschien.

Käthe Löwenthal

Gershon wählt darin eine distanzierte Erzählhaltung, berichtet von sich als Käthe in der dritten Person. In einer etwas spröden Sprache und mit einem strengen und unerbittlichen Blick vor allem auch auf sich selbst erzählt sie von ihrer glücklichen Kindheit in wohlhabenden Kreisen in Bielefeld. Der Großvater war Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, der Vater Paul erfolgreicher Architekt, beide nicht religiös, sich vollkommen als Deutsche fühlend. Paul war zudem verdienter Teilnehmer am Ersten Weltkrieg. Wie in vielen assimilierten jüdischen Familien kann man sich nicht vorstellen, jemals einer direkten Verfolgung ausgesetzt zu sein, auch nicht als sich die Lage immer weiter verschärft.

Paul bekommt bald keine Aufträge mehr, muss die Familie durch Gelegenheitsarbeiten ernähren, der Großvater wird aus fadenscheinigen Gründen verhaftet. Zumindest die drei Schwestern schicken die Eltern in von der zionistischen Bewegung geführte Lager, die sie auf ihre Ausreise nach Israel vorbereiten sollen. Dazu kommt es allerdings nicht mehr. Die Lage verschärft sich derart, dass die Mädchen mit einem der letzten Kindertransporte nach England fliehen. Für ältere Menschen ist eine Ausreise, auch nach Israel, bereits nicht mehr möglich. In Neben- oder Halbsätzen erzählt Karen Gershon über das weitere Schicksal der Menschen, von denen sie in Das Unterkind erzählt.

„Hete und Max Sieger kamen nach Theresienstadt, wo er starb. Sie wurde von dort nach Ausschwitz deportiert und hat nicht überlebt.“

Erschütterndes Zeitdokument

Kurz und knapp, fast nüchtern erzählt Karen Gershon ihre Familiengeschichte. Und macht das Erzählte dadurch fast noch eindringlicher. Auch die Eltern Paul und Selma überleben nicht. Sie werden frühe Opfer der Willkür. Eigentlich noch geschützt wegen Pauls Teilnahme am Ersten Weltkrieg, gelangen ihre Namen nur zur Erfüllung des „Deportations-Solls auf die Liste“, weil ein eingeplantes Ehepaar in der Nacht zuvor Selbstmord verübt hat. Es gibt auch (wenige) Deutsche, die den Nazis kritisch gegenüberstehen. Wie der Mann, der den abreisenden Mädchen den Koffer tragen will und ihnen zuruft. „Nicht alle Deutsche sind mit dem einverstanden, was  in unserem Namen euch Juden angetan wird.“ Das Unterkind ist ein erschütterndes Zeitdokument.

Aber es ist noch mehr. Es ist der Bericht über das Aufwachsen in einer modernen, gutsituierten jüdischen Familie. Nicht in Berlin oder einer anderen Metropole, sondern in Bielefeld. Es ist die Geschichte von schwesterlichen Rivalitäten, Jungmädchenträumen, ersten Verliebtheiten – denn das alles passiert natürlich auch, ganz abseits aller verhängnisvollen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Dabei ist Gershons Blick auch sehr präzise auf ihre jugendlichen Gefühle gerichtet, die sie keineswegs schönt. Die Rivalität besonders zur selbstbewussten Anne, die milde Verachtung der ihr ergebenen Lise, die Distanz zum Vater, die Kritik an der Mutter. Lange fühlt sie sich von den Eltern verstoßen, weil sie sie nach England geschickt haben. Ein Vergeben gelingt ihr erst viel später. Begleitet wird alles durch die „Schuld“ überlebt zu haben. Es ist ein Verdienst des Lilienfeld Verlags, das lange Zeit vergriffene Buch als wichtiges Zeitdokument in einer Neuausgabe in der bewährten Übersetzung durch Sigrid Daub wieder verfügbar zu machen.

 

Eine weitere Buchbesprechung findet ihr bei Birgit Böllinger

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Karen Gershon - Das Unterkind.

Karen Gershon – Das Unterkind
Mit einem Nachwort von Naomi Shmuel
Aus dem Englischen von Sigrid Daub
Lilienfeld Verlag, gebunden, Fadenheftung, 312 Seiten,€ 24,00,

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