Lektüre August 2023

Ist der Juli-Überblick spät, dann kann auch der August nicht pünktlich sein. Der Vollständigkeit halber hier noch der Überblick über die Lektüre im August 2023, der auch mein Urlaubsmonat war. Ich hoffe, dass ich die Lektüreüberblicke wieder etwas geordneter hinbekomme. gelesen sind die bücher ja schon lange und von den meisten auch schon die Rezensionen geschrieben. Nur bei den Zusammenfassungen habe ich ein wenig geschludert…

 

johanna-sebauer-nincshofJohanna Sebauer – Nincshof

Mein erstes Augustbuch war gleich eine ziemliche Enttäuschung für mich. Von vielen Leser:innen geliebt, ist mir hier der Blick auf ein kleines, abgelegenes Dorf im Burgenland und Teile seiner Einwohner:innen, die es gern dem Vergessen anheimgeben wollen, weil sie nicht mehr von all den Widrigkeiten und Vorschriften von draußen, von „denen da oben“ gegängelt werden möchten, zu harmlos, zu gewollt schrullig-nett, zu wenig soziologisch oder politisch reflektiert. Ein leichter, niemandem weh tuender Roman, der mir wenig gegeben hat. Kann man, muss man aber nicht lesen.

 

Deborah Levy - AugustblauDeborah Levy – Augustblau

Mein zweites Buch hat mich dagegen sehr positiv überrascht, war ich bisher nicht so ganz überzeugt von der auch von sehr vielen hochgeschätzten Deborah Levy. Weder Heim schwimmen noch Heiße Milch konnten mich überzeugen. Aber Augustblau war für mich ein Volltreffer.

 

 

„Vielleicht tue ich das.
Vielleicht tust du was?
Nach Gründen suchen, um zu
leben.“

„Vielleicht bin ich es.
Vielleicht bist du was?
Niedergeschlagen.“

Die Starpianistin Elsa Miracle Anderson ist ein Wunder(kind) am Piano und wundersam ist Deborah Levys Roman, der sie an einem zutiefst erschütterten Zeitpunkt ihres Lebens antrifft. Bei einem Auftritt in Wien verpatzt sie Rachmaninoffs 2. Klavierkonzert, flieht von der Bühne und tingelt zukünftig durch Europa von einer Privatlehrerinnenstelle zur nächsten. Ihre Identität ist erschüttert, wer sie ist, wer ihre unbekannte Mutter war, wie ihr Verhältnis zu ihrem Adoptivvater, Lehrer, Förderer Arthur Goldstein war und ist.
Eine rätselhafte Doppelgängerin zieht sie in ihren Bann und ist doch wohl nur ein Alter Ego, mit dem sie in Dialog (siehe oben) tritt. Ihre Kindheit kehrt in Traumbildern zurück.
Deborah Levy hält alles in der Schwebe, ihr Buch voller traumhafter Magie und voller Verweise, denen zu folgen ein Riesenvergnügen ist, ob Trilby hat oder Rachmaninoffs Konzert. Nichts ist zufällig, alles hochintelligent, atmosphärisch und berührend. Traumhaft auch die Gestaltung im Aki Verlag, übersetzt von Marion Hertle.

 

Julie Otsuka - Solange wir schwimmenJulie Otsuka – Solange wir schwimmen

Weiter ging es mit einem ganz wunderbaren Roman, der für mich allerdings ein bisschen Anlaufzeit brauchte. Julie Otsuka hat 12 Jahre nach ihrem Erfolg mit Wovon wir träumten (Das ich allen, die es noch nicht kennen wärmstens empfehle) einen neuen feinen und formal toll gebauten Roman geschrieben.
Ein unterirdisches Schwimmbad und seine Besucher, vorwiegend Stammgäste, darunter Alice, die am Beginn einer Demenz steht. Die Perspektive wechselt vom Wir, das langsam „Risse“ (so eines der Kapitel, mit dem ich aus formalen Gründen ein wenig gehadert habe) bekommt, über die personale Perspektive zu der kollektiven eines Pflegeheims zur ganz persönlichen Du-Perspektive der Tocher Alices, die zwischen Distanz und Nähe, zwischen Selbstvorwürfen und Zuwendung über die langsam verschwindende Mutter nachdenkt. Mich hat das Buch unglaublich stark berührt, kam mir sehr nah, hat mich sprachlich und formal sehr überzeugt.

 

susan-choi-vertrauensuebungSusan Choi – Vertrauensübungen

Noch längeren Anlauf brauchte meine Begeisterung für den National Book Award gekrönten Roman von Susan Choi. Der erste, längste Teil, der eine typisch amerikanische Coming-of-age-Geschichte an einer Eliteschule mit Schwerpunkt Darstellende Kunst erzählt, konnte mich nicht von sich und seinen Protagonisten überzeugen. Wäre da nicht der Augenmerk auf eine ziemlich perfide Art von Missbrauch, wäre ich vielleicht nicht am Ball geblieben. Aber das machte die Geschichte dann doch interessant.
Und dann, die Hälfte des Buchs liegt bereits hinter uns, bricht der Text ziemlich abrupt ab. Die Perspektive wechselt und es wird deutlich, was Choi mit ihrem Roman eigentlich will. Er wird zu einer echten Vertrauensübung zwischen Autorin und Lesenden, es kommt nochmal zu einem Perspektivwechsel. Und das ist ziemlich genial und lohnt die Lektüre unbedingt. Für alle, die das Buch noch nicht gelesen haben, habe ich nicht so viel verraten, denn Spoiler wären hier schade.

 

Eva Reisinger - Männer tötenEva Reisinger – Männer töten

Die fünfte Autorin in Folge im August. Unter dem herrlich zweideutigen Titel Männer töten veröffentlicht die österreichische Journalistin und Sachbuchautorin Eva Reisinger ihren ersten Roman und wurde dafür gerade für den Österreichischen Debütpreis 2023 nominiert. Weil die ständigen Berichte und Reportagen über Femizide anscheinend nicht wirklich eine Veränderung bringen, suchte Reisinger einen neuen Weg der Aufklärung, Bewusstmachung und Anklage. Männer töten ist ihre Antwort darauf. Sie ist wütend, konsequent und doch sehr unterhaltsam und österreichisch-humorig. Allein die Verschiebung zu Frauen als Täterinnen anstatt als Opfer, wie wir das in so vielen Krimis, Thrillern, Romanen gewohnt sind, schafft ein positives Aufmerken und Bewusstwerden. Das ist zunächst lobenswert und dem Roman sind allein deswegen viele Leser:innen zu wünschen, gerade auch männliche. Und Bücher über gelebte Frauensolidarität und die Utopie einer Welt ohne Gewalt gegen Frauen und weiblich gelesene Menschen kann es gar nicht genug geben. Mir war die Geschichte im Verlauf aber dann leider doch ein wenig zu flach, die Charaktere wie beispielsweise das lesbische Brautpaar oder die couragierte (katholische!) Pfarrerin zu sehr Abziehbilder, als dass mich das Buch trotz der großen Sympathie dafür literarisch wirklich überzeugen konnte. Wer allerdings ein leichtes, heiteres Buch mit Substanz sucht, ist hier vielleicht genau richtig. Und den Österreichischen Debütpreis hat das Buch auf jeden Fall (schon allein wegen des Titels!) verdient. Ich drücke die Daumen.
Zu erwähnen ist unbedingt noch die wirklich sehr schöne Gestaltung des Leykam Verlags, die das Buch zu einem wirklichen Schmuckstück macht: poppig-buntes, grafisches Cover mit Golddruck und schwarz-weißer Buchschnittverzierung.

 

Drago Jančar – Als die Welt entstand

Slowenien ist dieses Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse. Höchste Zeit also ein Buch eines seiner bedeutendsten Autoren zu lesen. Mit Als die Welt entstand ist Drago Jančar ein auch sehr stimmig von Erwin Köster übersetzter, meisterhafter Roman sowohl über das Aufwachsen in einer zerrütteten Nachkriegsgesellschaft als auch über die in vielen osteuropäischen Ländern noch nicht wirklich stattgefundene Auseinandersetzung mit den Kriegsjahren, der Besatzung, der sozialistischen Republik und der 1991 erfolgten Unabhängigkeit gelungen. Eine ausführliche Besprechung und eine Vorstellung neuer slowenischer Literatur erscheint hier auf dem Blog in Kürze.

 

bastian-kresser-als-mir-die-welt-gehoerteBastian Kresser – Als mir die Welt gehörte

Das Erstaunliche ist, dass es diesen Victor Lustig wirklich gab. Der 1890 geborene Lustig war österreich-ungarischer Herkunft, von großer Intelligenz und umfassender Ausbildung. Er sprach fünf Sprachen. Dass er mit 22 Jahren bereits 5x im Gefängnis sitzen, sich etliche fiktive Identitäten zulegen und auf Überseedampfern Geld mit Betrügereien bei Glücksspielen machen sollte, war in keiner Weise vorgezeichnet oder vorhersehbar. In die Geschichte ging er schließlich ein als „der Mann, der den Eiffelturm verkaufte“. Und das gleich zwei Mal. Seine überraschende Geschichte erzählt der österreichische Autor Bastian Kresser auf so unterhaltsame wie spannende Weise.
Mit viel Freude am Detail lässt er den Trickbetrüger und Hochstapler aus seinem Leben erzählen, von seiner Jugend, den aufregenden Jahren in Frankreich und den USA bis zu seinem atemberaubenden Coup um das Wahrzeichen von Paris und seinen Gefängnisjahren in Alcatraz, wo ihn eine Art Freundschaft mit dem berühmten Gangsterboss Al Capone verband. Die Fakten sind genau recherchiert, aber natürlich lässt sich Autor Kresser daneben genug Freiheit, seine Geschichte fesselnd und überraschend zu erzählen.

 

Jan Costin Wagner - Einer von den GutenJan Costin Wagner – Einer von den Guten

Jan Costin Wagner hat mit Einer von den Guten einen dritten Roman über den Ermittler Ben Neven geschrieben, der am Ende zwar auch fast alles in der Schwebe lässt, aber dennoch einen zufriedenstellenden Abschluss der Reihe bildet.
Am Ende von Teil zwei hat Ben Neven seine eigenen pädophilen Neigungen, denen er zunächst nur im Internet folgt, zunehmend nicht mehr unter Kontrolle. Ben Neven steht auf der Kippe, ist kräftig angeschlagen.
Kurze, schmucklose Sätze, knappe Dialoge und vieles, was nur angedeutet wird – der typische Sound von Jan Costin Wagner herrscht auch in Einer von den Guten. Am Ende löst sich nichts auf, die Sicht auf Hauptprotagonist Ben Neven wird noch problematischer. Vermutlich wird er sich weiterhin einreden einer von den Guten zu sein.

 

Viktor Funk - BienenstichViktor Funk – Bienenstich

Der Ich-Erzähler kam als Zehnjähriger mit seinen Eltern aus Kasachstan und wurde mit einem Stück Bienenstich begrüßt. Das Streben nach Integration und danach, in Deutschland wirklich zuhause zu sein, bestimmt seitdem das Leben der Familie. Nicht auffallen, perfekt Deutsch sprechen, alle Erwartungen erfüllen, keine Relikte aus der alten Heimat mit sich herumschleppen – das gelingt ihm zunächst auch sehr gut. Aber auch wenn er sich nach außen gut integriert, zweifelt der Ich-Erzähler oft. Hat er nicht zu viel von sich selbst aufgegeben, die von ihm erwarteten Rollen zu gut ausgefüllt, sein altes Ich verraten, wie ihm später seine Freundin Marie, die aus Rumänien stammt und der das Eingliedern in die deutsche Gesellschaft nicht ganz so leicht von der Hand geht, vorwirft? Bienenstich ist ein Buch über die Suche nach Identität und über scheiternde Beziehungen, über unterschiedliche Ansätze, als Migrant:in in Deutschland anzukommen, über Möglichkeiten und Schwierigkeiten der Zugehörigkeit. Der Ich-Erzähler und der Autor teilen sich einige biografische Eckpunkte.

 

birgit-mattausch-bis-wir-wald-werdenBirgit Mattausch – Bis wir Wald werden

Ein Hochhaus als zentraler Handlungsort oder sogar als eine Art Protagonist. Meist haben Hochhäuser keinen guten Ruf, wird ihre Anonymität beklagt, ihre angebliche Kälte, gelten sie oft als soziale Brennpunkte. Dass sie auch Heimat, Gemeinschaft und Geborgenheit bedeuten können, hat Autorin Birgit Mattausch erlebt, als sie selbst als Pfarrerin in einem solchen Wohnkomplex, in dem besonders viele russlanddeutsche Migrant:innen lebten, wohnte.
Hauptfiguren in Bis wir Wald werden sind Nanush und ihre Urgroßmutter Babulya. Mit der noch ganz kleinen Nanush ist Babulya einst aus Sibirien nach Deutschland ausgereist und über das Sammellager Friedland schließlich im Hochhaus am Waldrand gelandet. Nun ist Babulya sehr alt und Nanush lebt schon längst in einer eigenen Wohnung ganz oben, die Bindung zwischen beiden ist aber weiterhin sehr eng. Die alte Frau ist auch irgendwie die gute Seele der vorwiegend russlanddeutschen Hausgemeinschaft. Warum sie einst nur mit ihrer Urenkelin emigriert ist, was mit Nanushs Mutter ist (vermutlich tot) oder mit deren Mutter, Babulyas Tochter (vermutlich stramm russlandtreu) lässt Birgit Mattausch ein wenig in der Schwebe. Wie sie so manches zwischen den Zeilen unausgesprochen lässt.
Sehr feinfühlig, poetisch, leise schreibt Birgit Mattausch über diese ganz besondere Hausgemeinschaft, über die Geschichte, die Geschichte der Russlanddeutschen. Nie belehrend, sondern so, dass man gern mehr darüber erfahren möchte, nachschlägt, googelt. Und sehr zart schreibt sie über die starke Bindung zwischen Urgroßmutter und Urenkelin, über das bevorstehende Abschiednehmen und das langsame Verlöschen eines geliebten Menschen. Ein sehr schönes Buch, eine Entdeckung!

 

 

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