Theres Essmann – Dünnes Eis

Über dünnes Eis bewegt sich die fast einhundert Jahre alte Marietta schon fast ihr ganzes Leben lang. Zumindest seit sie als junge Frau auf der Flucht vor der Roten Armee über dieses gehen musste, Unzählige dabei sterben sah und ihr allergrößtes Trauma dabei schon hinter ihr lag. Verdrängung und/oder Erinnerung – dünnes Eis, in das Marietta immer wieder einbricht, wenn Träume und Bilder auf sie einstürmen. Theres Essmann schafft mit ihrem Roman Dünnes Eis ein feinfühliges, empathisches Buch über eine noch sehr lebendige alte Dame.

Es wird einsam um Marietta, die in einer Seniorenresidenz ein eher privilegiertes, komfortables Leben lebt. Die Angestellten begleiten das Lebensende der ihnen Anvertrauten freundlich, bewusst, zuvorkommend. Aktivitäten werden angeboten, man isst im Restaurant oder auf dem Zimmer, ganz nach Wunsch und hat einen großen Park vor der Haustür. Aber immer mehr geliebte Menschen sterben weg, ihr Mann, der Psychiater Elias, ist schon lange tot und auch ihre Zimmernachbarin, gute Freundin und Vertraute Gisela lebt nun schon einige Jahre nicht mehr. Stattdessen ist der missmutige Herr Tacke ins Zimmer nebenan gezogen. In der Residenz begegnet man ihm mit Misstrauen, es wird gemunkelt, er sei ein Ewiggestriger, ein alter Nazi. Und gerade um ihn soll sich Marietta, die einst als „grüne Dame“ in Heimen und Krankenhäusern ehrenamtlich aktiv war, nun ein wenig kümmern. Ihm geht es nicht gut, Leberkrebs.

Die Traumata des Krieges

Nun entspinnt sich daraus keine Geschichte à la „harter Kern, weiche Schale“, „der Griesgram ist eigentlich ein Mensch mit goldenem Herzen“ oder gar eine Freundschafts- oder Liebesgeschichte, wie man vielleicht erwarten oder befürchten könnte. Zwar kommt Marietta Herrn Tacke näher und kommt auch hinter dessen große Leidenschaft für Flüsse, deren Ufer er mit dem Fahrrad abgefahren ist und über diese Reisen er lange Reihen an Aktenordnern erstellt hat. Versöhnlich ist aber nicht, was Marietta da erfährt.

Allerdings bringt es Marietta in ihrem ganz eigenen Trauma, das nun im Alter mit Macht nach vorne drängt, in unerwarteter Weise weiter. Immer häufiger kommt es bei ihr zu Erinnerungs-Flashbacks oder Träumen über ihre Flucht aus Ostpreußen während der letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs. Die junge Witwe – ihr erster Mann Werner starb als Soldat -, lebte mit ihrem sechsjährigen Sohn Johann bei den Großeltern, als sie von der Front überrollt wurden. Was damals unzähligen Frauen, Alten und Kindern angetan wurde, ist hinlänglich bekannt. Theres Essmann schildert es in Dünnes Eis so zurückhaltend wie schonungslos, so leise wie brutal. Opfer war aber nicht nur Marietta, sondern auch der kleine Johann, der bei einem „Fluchtversuch“ von einem russischen Soldaten erschossen wurde. Seitdem macht sich Marietta Vorwürfe, schuld zu sein, nicht richtig auf ihr Kind aufgepasst zu haben.

Flucht

In der Nachbarschaft zur Seniorenresidenz leben seit einiger Zeit Geflüchtete in Notunterkünften. Sehr zum Missfallen vieler der Bewohner, die sich bedroht fühlen, hat man doch schon einige der vorwiegend Syrer:innen und Iraker:innen in „ihrem“ Park gesichtet. Auch Marietta begegnet einem kleinen verängstigten Jungen, der nicht spricht, bei Marietta aber heftige Gefühle auslöst. Nach einiger Zeit gewinnt sie das Vertrauen von Enis und kann mit Hilfe der jungen Journalistin und Fotografin Julia von dessen Onkel Adil seine traurige Geschichte erfahren.

Diese auf ihre je eigene Weise berührende Geschichten verknüpft Theres Essmann in Dünnes Eis auf vortreffliche Weise. Sie erzählt von vergehenden Leben, von bleibenden Traumata, von Schuld und der Schwierigkeit, vor allem sich selbst zu verzeihen. Die Gräuel, die Kriege hinterlassen, seien es die der Weltkriege oder die der Kriege in Syrien oder der Ukraine, sie schlagen Wunden, die nicht so schnell, wenn überhaupt je verheilen. Marietta hat trotz allem ein erfülltes, ich würde sagen schönes Leben gehabt, Dank eines liebenden und geliebten Mannes, feinfühliger Begleitung und Wohlstand.

Vielen vom Krieg Versehrten war und ist das nicht zuteil geworden. Aber selbst bei ihr blieben Narben, die auch nach mehr als siebzig Jahren noch schmerzen. Menschen und Gesellschaften gehen kaputt am Krieg. Das ist heute leider so aktuell wie eh und je. Darüber sollte man immer wieder lesen. Und wenn das in so wunderbarer Sprache, mit so viel Empathie und so zurückhaltend wie bei Theres Essmann geschieht, wird daraus auch noch ein großer Lesegenuss.

Bereits ihr erstes Buch Federico Temperini hat mir ausgesprochen gut gefallen.

 

Weitere Besprechungen auf Kulturbowle und bei Birgit Böllinger

 

Beitragsbild: by Florentin-m, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

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Theres essmann - Dünnes Eis.

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Theres Essmann – Dünnes Eis
Dörlemann August 2023, 288 Seiten, Fadenheftung, € 23.00

Ein Gedanke zu „Theres Essmann – Dünnes Eis

  1. Vielen herzlichen Dank für die Verlinkung!
    Es freut mich sehr und es ist schön zu lesen, dass Dir „Dünnes Eis“ auch so gut gefallen hat wie mir. Ich mochte es wirklich sehr – ein leises, feines Buch, das genau meinen Nerv getroffen hat. Viele Grüße! Barbara

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