Der Krieg ist seit mehr als 15 Jahren zu Ende. Und doch lebt er in den Köpfen der Menschen, vor allem der Männer, weiter und bestimmt den Alltag der Menschen in der Volksrepublik Slowenien, Teilstaat der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien, auch noch Anfang der 1960er Jahre. In dieser Zeit wächst Danijel auf, den man bei aller Fiktionalität als ein Alter Ego des 1948 geborenen Autors Drago Jančar ansehen kann und der im Alter von 12 Jahren die Ordnung seiner Welt und die eigene Ordnung in ihr erlebt, die Zeit, als für ihn die Welt entstand.
Das Jahr 1961 kann man durch bestimmte äußere Ereignisse ermitteln, etwa durch den Weltraumflug von Juri Alexejewitsch Gagarin. Danijel lebt mit seinen Eltern in Maribor, der Geburtsstadt Jančars. Die zerrissene Welt der Erwachsenen stellt ihn so manches Mal vor ein Rätsel. Die Mutter ist streng gläubig und drängt ihren Sohn dazu, nicht nur den Gottesdienst zu besuchen, sondern auch bei Pater Aloisius Katechismusunterricht zu nehmen. Die christlichen Geschichten stehen im krassen Widerspruch zu allem, was ihm in der Schule über den Sozialismus und die Pflicht junger Pioniere erzählt wird. Und auch der Vater, der als Partisan von den Deutschen nach Auschwitz deportiert wurde und diese Zeit nicht vergessen kann, nimmt ihm seine Kirchenbesuche übel. Für Danijel aber sind die biblischen Geschichten sehr bedeutungsvoll. Besonders die von David und Goliath und die um die schöne Bathseba begleiten ihn das ganze Buch über.
Eine verwirrende Welt
Wie soll sich Danijel in dieser verwirrenden Welt zurechtfinden? Pater Aloisius reagiert wütend, als der Junge einmal stolz mit einen von seinem Onkel aus den USA zugeschickten T-Shirts der „Red Devils“ in der Kirche erscheint. Die Lehrerin ist empört, dass er zu den Kapuzinermönchen geht. Und der Vater lebt fast ausschließlich für seine Partisanenabende, bei denen in alten Erinnerungen geschwelgt, reichlich getrunken und dann ordentlich gestritten wird. Denn so einig ist man sich unter den alten Kämpfern auch nicht. Wer ist mehr Partisan, derjenige, der wegen seiner Untergrundarbeit deportiert wurde und die Hölle der deutschen Konzentrationslager mitmachen musste? Oder derjenige, der bis zum Ende gekämpft hat? Wer war Mitläufer, wer gar Kollaborateur? Ganz unten in der Hackordnung steht der Vater von Danijels Freund Franci Rainer, der damals für die Deutschen gekämpft und dabei ein Bein verloren hat. Er wird regelrecht angefeindet. Irgendwann ist seine Familie verschwunden.
Die slowenische Gesellschaft war in den 1950er und Anfang der 1960er Jahre, in denen Drago Jančar Als die Welt entstand angesiedelt hat, tief gespalten und teilweise ziemlich gewaltbereit. Gar nicht so einfach für einen jungen Menschen, sich da zu orientieren. Zumal der Bruch durch Danijels eigene Familie geht, der Vater die Mutter in betrunkenem Zustand gern auch mal „Gestapohure“ nennt, weil sie in der Besatzungszeit in einer deutschen Seifenfabrik arbeitete. Eine bewunderte Konstante ist für Danijel da der Marschall Tito in seiner stets strahlendweißen Uniform.
Lena
In die Welt von Danijel, in die sozialistische Mietskaserne in der er und seine Freunde mit ihren Familien wohnen, platzt irgendwann eine junge, hübsche Frau, Lena. Sie wird nicht nur Auslöser von frühpubertären Phantasien des Jungen, sondern findet im etwas plumpen, ihr aber treu ergebenen Pepi Patagon einen Freund und Beschützer, der ihr aber bald zu langweilig wird. Da ist der motorradfahrende Lubjon ein ganz anderes Kaliber, auch wenn er reichlich windig erscheint. Lenas Sehnsucht nach einem anderen Leben löst bald eine Tragödie aus.
Am Ende ist Danijels Welt erst einmal zerstört. Der pensionierte Lehrer Fabjan, bei dem Danijel oft Zuflucht gesucht hat und der ihm die Welt der Literatur näher brachte, wird wegen seiner Vergangenheit an einer deutschen Schule verfolgt. Sinnbildlich liegt der von Danijel so bewunderte Globus des Gelehrten am Ende nach einer Hausdurchsuchung zerschlagen auf der Erde. Er muss seine Welt erneut erschaffen, gegen den Hass, die Gewalt, den Neid und die Missgunst der Nachkriegsgesellschaft, die vielfach traumatisiert ist. Ihm gelingt das auch durch seine Fantasie, durch die Flucht in (biblische) Geschichten, in Tagträume und Vorstellungen. Sein Weg führt in die Autorenschaft, wie bei seinem Autor Drago Jančar.
Rückblick
Wir erleben die Geschichte aus der Sicht von Danijel. Dieser erzählt einer nicht näher gefassten Erzählinstanz als alter Mann von seiner Kindheit und den tragischen Ereignissen 1961. Dadurch ist eine Distanz zum Erzählten gegeben, sein Blick ist der des in seiner Entwicklungsphase steckenden Jungen, damals als für ihn die Welt entstand. Hinzu kommen seine Träume, seine Fantasien, die vielen von ihm aufgesogenen Geschichten. So identifiziert er sich mit dem alternden König David, der die schöne Bathseba begehrt und ihren Mann in den Krieg und den sicheren Tod schickte. Danijel wünscht sich Pepi fort, weil er auf seine jugendliche Art die schöne Lena begehrt. An Pepi fühlt er sich schuldig.
Mit Als die Welt entstand ist Drago Jančar ein auch sehr stimmig von Erwin Köster übersetzter, meisterhafter Roman sowohl über das Aufwachsen in einer zerrütteten Nachkriegsgesellschaft als auch über die in vielen osteuropäischen Ländern noch nicht wirklich stattgefundene Auseinandersetzung mit den Kriegsjahren, der Besatzung, der sozialistischen Republik und der 1991 erfolgten Unabhängigkeit gelungen. Drago Jančar ist eine der wichtigsten und bekanntesten Stimmen aus dem Literaturland Slowenien, das im auf der Frankfurter Buchmesse zu Gast sein wird.
Beitragsbild: Maribor
Auch Constanze Zeichen&Zeiten mochte den Roman sehr
_____________________________________________________
*Werbung*
Drago Jančar – Als die Welt entstand
übersetzt aus dem Slowenischen von Erwin Köstler
Zsolnay August 2023, Fester Einband, 272 Seiten, 26,00 €