Wolf Haas – Eigentum

Manchen Autor:innen vertraue ich nahezu blind. Der Österreicher Wolf Haas, bekannt geworden durch seine mittlerweile neun Brenner-„Krimis“ mit dem so typischen, genialen Sound, gehört sicher dazu und deswegen habe ich zu Beginn seines neuen Romans Eigentum nur ganz kurz gezaudert wegen des ziemlich flapsigen Tons, mit dem der Erzähler vom Sterben der Mutter Marianne Haas erzählt. Unangemessen? Respektlos? Keineswegs. Wolf Haas ist nicht nur Träger zahlreicher Krimipreise, sondern auch des angesehenen Wilhelm-Rabe-Literaturpreises. Der Mann kann Literatur, und wie. Und so schafft er hinter einem ganz eigenen, stark rhythmisierten und hochkomischen Ton ein von großem Respekt und Ernst durchdrungenes, sehr anrührendes Porträt einer nicht ganz einfachen Frau.

Komik angesichts des nahenden Tods der Mutter? Ja, sogar ein bisschen grantig ist der Sohn. Verkündet die demente Frau doch im Sterbebett zum gefühlt ersten Mal im Leben, es gehe ihr gut. Jahrzehntelang, die ganze Kindheit und Jugend hindurch musste der Sohn sich anhören, wie schlecht es ihr gehe, wie elend das Schicksal es mit ihr gemeint hat.

„Den ganzen Tag nur Arbeit, Arbeit, Arbeit!“

Die rhetorische Trias

Die Mutter war schon immer Anhängerin der rhetorischen Trias, und so erstreckten sich ihre Klagen gern auch auf „sparen, sparen, sparen“ oder aufs „waschen, putzen, bügeln“. Auch der Erzähler bedient sich dieser Trias als ein seinen Text immer wieder rhythmisierendes Element. Aber wie war das Leben der Marianne Haas, die nun mit 95 Jahren in einem Pflegeheim ihrem Tod entgegengeht? Das fragt sich der schriftstellernde Sohn, irritiert durch ihr plötzliches „Es geht mir gut.“ Und da er sowieso gerade eine anstehende Poetikvorlesung prokrastiniert, beschließt er, bis zum Tod und der Beerdigung der Mutter einen Text über ihr Leben zu verfassen, sich selbst Klarheit über sie zu verschaffen. Ganz nach dem für die Vorlesung gefundenen Titel „Kann man über ein Leben schreiben?“ (Der daraus entstanden ist, das der Autor immer wieder gefragt wird: „Kann man denn vom Schreiben leben?“

Geboren wurde Marianne Haas 1923. Es war das Jahr der Hyperflation, als das Geld wegen der irrsinig hohen Kriegsschulden, die das Deutsche Reich bei Bevölkerung (Kriegsanleihen) und anderen Staaten (Reparationen) angehäuft hat, wie in einem Erdrutsch an Wert verlor. Wer seinen Lohn nicht gleich nach Erhalt wieder ausgab, konnte sich schon Tage, manchmal Stunden später kaum mehr etwas davon kaufen. Im Juni 2023 kostete ein Ei beispielsweise bereits 800 Mark. Ein Klacks gegen die 320 Milliarden Mark, die man im Dezember dafür ausgeben musste. Millionen Sparer und Eigentümer standen vor dem Ruin. Auch Mariannes Vater erwischte es eiskalt, sein Hof in Maria Alm ging verloren, er musste fortan als Wagnermeister seine zwölfköpfige Familie durchbringen. Die jüngste Tochter, Marianne, wurde schon als Baby in Pflege gegeben, verdingte sich bereits mit zehn Jahren als Magd beim Kühe hüten und Strümpfe stopfen.

Ein Leben voller Fleiß und Streben

Aber sie war fleißig und strebsam, lernte Sprachen und bekam einen Platz an einer Servierschule. Da kam ihr der Krieg ins Gehege, sie wurde zur Flugwache zwangsverpflichtet. Das Schreckgespenst der Inflation im Nacken, blieb sie trotzdem am Ball. Nach dem Krieg besucht sie die Hotelfachschule, arbeitet zehn Jahre an renommierten Hotels in der Schweiz. Aber da kommen ihr die Umstände wieder in den Weg. Sie wird schwanger, kehrt nach Hause zurück. Vom Vater – zunächst von Wolfs Bruder, dann von ihm selbst – ist kaum die Rede. Er scheint ein unsteter Mensch gewesen zu sein, stirbt früh. Aber auf sich selbst gestellt sein ist Marianne ja gewohnt. Ihr Traum vom Eigentum bleibt. Doch kaum hat sie etwas mühsam angespart, frisst es die Inflation, die Geißel ihres Lebens, wieder weg. Schließlich ertrotzt sie sich eine kleine Gemeindewohnung direkt an der Friedhofsmauer.

Marianne Haas war wohl ein schwieriger Mensch, schroff, eigensinnig, ein wenig schrullig – da sind sich Dorfbewohner und Erzähler einig. Aber vor ihrem resoluten Behauptungswillen und dem Streben nach Selbstbestimmungs muss man doch auch Respekt haben. Ebenso vor Wolf Haas, der das Leben seiner Mutter in Eigentum wie in einem Schnelldurchlauf zusammenfasst und ihm doch seine ganze Würde lässt. Alternierend zu seinen Erinnerungen und Einordnungen lässt er Marianne zu Wort kommen, in ihrem ganz eigenen Sprachduktus und regionalem Dialekt. Er rhythmisiert das Ganze, nicht nur durch die erwähnte rhetorische Trias, sondern auch durch sonstige Wiederholungen. Das ist nicht nur Stilmittel, sondern auch Umsetzung eines Erzählprinzips.

„Manche Dinge muss man immer wieder erzählen. Mit jeder Wiederholung wird die Erzählung etwas weniger wahr. Bis die Wiederholungen eine so unerschütterliche Form angenommen haben, dass sie jeden Bezug zur ursprünglich abgebildeten Realität verloren haben.“

Vielleicht geht es der Mutter angesichts ihres baldigen Todes deshalb so gut, vermutet der Sohn, weil sie nun endlich das einzige Eigentum beziehen darf, zu dem sie es in ihrem langen Leben gebracht hat: die 1,7 m2 Grund auf dem Friedhof.

Wolf Haas hat seiner Mutter ein wunderbares Buch geschenkt. Einfühlsam und ehrlich, lakonisch und philosophisch. Und so anrührend wie hochkomisch. Sehr angemessen und sehr respektvoll.

Lesen, lesen, lesen!

 

Eine weitere Besprechung auf dem Bücheratlas

Beitragsbild: Hohenholz – Friedhof by onnola CC BY-SA 2.0 via Flickr

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Wolf Haas - Eigentum.

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Wolf Haas – Eigentum
Hanser Verlag September 2023, 160 Seiten, Fester Einband, 22,00 €

 

 

 

 

 

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