Roy Jacobsen – Die Unwürdigen

Roy Jacobsen (Jahrgang 1955) ist, nicht zuletzt mit seiner großen vierteiligen Barrøy-Saga (Die Unsichtbaren, Die Kinder von Barrøy), ein großer Chronist der jüngeren norwegischen Geschichte. Im Rahmen des Gastlandauftritts Norwegens zur Frankfurter Buchmesse 2019 habe ich diesen Autor, der in Deutschland leider immer noch nicht so bekannt ist wie er es eigentlich verdienen würde, für mich entdeckt. Nun hat der Verlag C.H.Beck seinen neuesten Roman Die Unwürdigen in der Übersetzung von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann veröffentlicht. Wieder eine empathische Geschichte, diesmal aus einer sehr düsteren Zeit und von einer wenig beachteten Gruppe von Menschen.

Norwegen 1940

Seitdem die Deutsche Wehrmacht im April 1940 Norwegen besetzt hat, leidet die Bevölkerung in vielem Mangel. Hinzu kommt die Angst vor Verhaftung und bei der jüdischen Bevölkerung vor Deportation. Im Verlauf des Romans ist eine der zeitlichen Markierungen die Fahrt des Frachtschiffes Donau, mit dem im November 1942 und Februar 1943 die norwegischen Juden via Stettin nach Auschwitz deportiert wurden. In den Mittelpunkt von Die Unwürdigen stellt Roy Jacobsen allerdings etwas anderes.

Es ist eine Bande von Heranwachsenden rund um die Osloer Brettevilles Gate, die wild, aufsässig und früh erwachsene Verantwortung übernehmen müssend damit beschäftigt sind, sich und ihre Familien durchzubringen. Es ist ein minderprivilegiertes Arbeitermilieu, in dessen Mietskasernen sie sich bewegen. Auf die Erwachsenen ist nur wenig Verlass. Und so reparieren Carl, Olaf und Roar, Vidar und Jan Fahrradwracks, um sie weiterzuverkaufen, „organisieren“ Lebensmittel, Holz und Kohlen und schrecken auch vor dem einen oder anderen Diebstahl nicht zurück.

Carl, genannt Kalle, zum Beispiel fühlt sich verantwortlich für seine „Mammen“ und die beiden Schwester, besonders seit der Vater eines Tages verhaftet, gefoltert und umgebracht wird. Dass Erling dem norwegischen Widerstand angehörte, wusste Carl nicht. Und ehrlich gesagt, interessiert ihn dieses Politische auch recht wenig. Er fühlt sich zuständig fürs Überleben, dafür, dass genug zu essen auf dem Tisch steht und seine Mutter nicht völlig in der Trauer versinkt. Kurz vor seinem Tod hat der Vater ihm aber noch einen Stadtplan mit markierten Villen überreicht und die Anweisung, zur von den deutschen kontrollierten Gummifabrik zu gehen und dort den wachhabenden Soldaten zu fragen: „Wo sind wir?“ Rätselhafte Dinge. Aber auch wenn Carl mit seinem Vater nicht besonders gut klarkam, nimmt er sie als eine Art Vermächtnis.

Henriksen & Steen (Photographers in Oslo, Norway) / National Library of Norway, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
Carl und seine Bande

Die Villen stehen leer und beherbergen Dinge von großem Wert. Carl und seine Bande räumen sie leer und versorgen damit auf lange Zeit ihre Familien. Dazu gehört auch die Familie von Carls bestem Freund Olaf. Auch dessen Vater ist verschwunden. Arne, der sich gerne Aron nennt seit die Deutschen da sind, aber auch der Nicht-Jude genannt wird, weil er eben nicht jüdisch ist. Dass Arne auch zum Widerstand gehört hat, ein Radio mit Feindsendern auf dem Dachboden verborgen und sich rechtzeitig nach Schweden abgesetzt hat, auch das erfahren die Jungen erst später. Da auch Olafs unstete Mutter Lilian eines Tages verschwindet, trägt Olaf nun die Verantwortung für seine beiden noch sehr kleinen Geschwister. Durch die Beziehung zu Carls älterer Schwester Mona entsteht fast so etwas wie eine kleine Ersatzfamilie. Leider nicht für lange.

Dritter im Freundesbund ist Roar, der einzige mit noch intakter Familie. Aber auch er gerät in einen fatalen Abwärtsstrudel als er beginnt, regelmäßig Schwarzmarkgeschäfte mit einer ehemaligen Lehrerin zu tätigen.

Distanz und Nähe

Alle Figuren und Ereignisse bleiben ein wenig undurchschaubar. Bei aller Empathie hält sie uns Roy Jacobsen immer ein wenig auf Distanz, auch dadurch, dass er immer wieder vom einen zum anderen schweift. Viele moralisch ziemlich bedenkliche Handlungen trägt man als Leser:in mit, weil die damaligen Verhältnisse den Protagonist:innen oft keine Wahl lassen. Oft gilt: „Friss oder stirb“. So verhält es sich auch bei Carl und der Gummifabrik. „Wo sind wir?“ öffnet ihm dort die Tür, er bekommt Arbeit, bald sogar Schreibarbeit in der Stube des Kommandanten Heussler. Und muss feststellen, dass er dort sogar gerne ist. Er ignoriert Warnungen und wird bei einem Anschlag des norwegischen Widerstands auf die Gummifabrik beinahe getötet.

Still und fesselnd erzählt Roy Jacobsen in Die Unwürdigen von den Jungen und ihren Familien, vom Überleben und von Moral, Widerstand und Wegducken. Und wieder einmal fügt er seiner Chronik der norwegischen Geschichte ein weiteres, sehr gelungenes Kapitel hinzu.

 

Constanze Zeichen&Zeiten hat Die Unwürdigen auch bereits gelesen und besprochen

Beitragsbild: Norwegen, Schlangestehen unter der Besatzung 1942, Royal Norwegian Information Service, Washington, D.C., Public domain, via Wikimedia Commons

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Roy Jacobsen - Die Unwürdigen.

Roy Jacobsen – Die Unwürdigen
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann
C.H.Beck August 2023, 331 Seiten, Hardcover, € 26,00

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