Bayerischer Buchpreis 2023 – Deniz Utlu im Gespräch

Stephanie Bart und Deniz Utlu sind beim Bayerischer Buchpreis 2023 in der Kategorie Belletristik neben Teresa Präauer nominiert und sprachen mit Alexandra Stiller und Petra Reich auf der Frankfurter Buchmesse

Teil 1: Deniz Utlu

Autor Deniz Utlu ist sicher einer der begehrtesten Interviewpartner auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Sein Roman „Vaters Meer“ hat nicht nur begeisterte Stimmen beim Lesepublikum und der Literaturkritik erhalten, er war mit einem Textauszug auch beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb eingeladen, erhielt für einen solchen bereits 2021 den Alfred Döblin Preis. Außerdem war der Roman für den hochdotierten Wilhelm-Rabe-Preis nominiert. Und steht nun auf der Nominierungsliste zum Bayerischen Buchpreis 2023. Eine Freude, dass Deniz Utlu sich Zeit genommen hat, mit Alexandra und mir über sein Buch zu sprechen.

Deniz Utlu im Interview auf der Frankfurter Buchmesse Oktober 2023 Bayerischer Buchpreis 2023
Deniz Utlu im Interview auf der Frankfurter Buchmesse Oktober 2023 Bayerischer Buchpreis

In seinem berührenden Roman erzählt er von Yunus, der viel mit dem Autor gemein hat, unter anderem einen Vater, der früh zwei Schlaganfälle erleidet und fortan durch Schädigung des Hirnstamms bewegungs- und sprachunfähig in einem Locked-in-Syndrom eingeschlossen bleibt. Zehn Jahre vergehen, in denen die Mutter den Vater aufopferungsvoll pflegt und der Junge vom Kind zum jungen Mann heranwächst. Nach dem Tod des Vaters stellen sich nicht nur viele Erinnerungen ein, sondern auch viele Fragen, zum Leben des Vaters, der Eltern als Paar, aber auch zum Erinnern selbst.

Der Titel „Vaters Meer“ ist ausgesprochen stimmig. Nicht nur heißt der Autor wie das Meer (türkisch: Deniz = Meer) und bedeutet der Name des Protagonisten Yunus = Delfin, sondern es gibt im Text auch immer wieder Bezüge dazu. So wird der Vater am Meer zu einem anderen, viel unbeschwerteren Mann, erinnert die Wüstenebene um seinen Heimatort Mardin in Südostanatolien an die Weite des Meeres. Da mir der Titel so besonders gut gefällt, gilt meine erste Frage auch danach, ob er für Deniz Utlu schon von Anfang an feststand.

„Nein, der Titel kam erst sehr spät. Der Arbeitstitel lautete „Ursprung“. Ich habe irgendwann aber festgestellt, dass er missverständlich ist.“

Für Deniz Utlu hat der Titel eines Buchs eine große Bedeutung, ist nicht nur Paratext, sondern bereits erstes Wort oder erster Satz. d  Der Begriff „Ursprung“ tatsächlich im aktuellen Sprachgebrauch meist eine andere Bedeutung als die von Utlu intendierte. Meist sei damit nur „Herkunft“ gemeint. Ursprung als Ursprung von allem, in einem umfassenderen, eher mystischen, metaphysischen, philosophischen Sinn höre darin kaum jemand. Auf einer metaphorischen Ebene konnte diese Bedeutung das Meer übernehmen.

„Und dann hat das zu so vielem anderen gepasst. Meer gelesen als Mär. Es geht ja um die Geschichten des Vaters, wie der Sohn sie fabuliert. Das Meer als Metapher für Gedächtnis und Erinnerung. Das Meer psychoanalytisch als Metapher für das Unbewusste.“

Im Zentrum des Buchs steht die Auseinandersetzung mit dem Vater. Oft muss erst ein gewisses Alter erreicht sein, bevor die Beziehung zu den eigenen Eltern plötzlich wieder relevanter wird. Deniz Utlu benennt die Nähe des 40. Lebensjahres als diesen Zeitpunkt.  Albert Camus „Der erste Mensch“, auf den sich Utlu transtextuell bezieht, entstand in einem ähnlichen Lebensalter. Allerdings tauchte das Thema auch bereits in Utlus Debüt „Die Ungehaltenen“ auf.

Zentral im Roman steht auch eine gewisse Sprachlosigkeit, die sicher in vielen Familien herrscht, hier aber durch das Locked-in-Syndrom des Vaters forciert ist, körperlich geworden ist. Eine ganz große Bedeutung hat allerdings auch die Sprache. Für Yunus sind das Türkisch, das Arabisch des Vaters und Deutsch. Auf die Frage nach der Bedeutung von Sprache und Sprachlosigkeit im Roman meinte Utlu:

 

Deniz Utlu auf der Frankfurter Buchmesse 2023 Bayerischer Buchpreis
Deniz Utlu auf der Frankfurter Buchmesse 2023

„Romane bestehen aus Sprache, sie sind nichts anderes als Sprache. Sprache ist von daher immer auch Gegenstand eines literarischen Textes. Hier ist es ein Stück weit expliziter, weil die Sprachlosigkeit aufgrund des Verlusts motorischer Fähigkeiten besteht. Auch gibt es eine Sprachlosigkeit zwischen den Eltern vorher, es gibt eine Sprachlosigkeit in der Familie. Aber es geht nicht nur um die Sprachen an sich, es geht auch um die Schwierigkeit einander zu verstehen, einander einen Verständnisraum zu geben. Auch das Nichtsprechen ist eine Sprache.“

In der Aufarbeitung von Trauer spielt Sprache im Roman eine sehr spezifische Rolle. Und zwar in der Erinnerung von Yunus an die Erzählweise des verstorbenen Vaters. Die Art, wie der Vater Geschichten erzählt hat, ist prägend dafür, wie sich der Sohn erinnert, welche emotionale Beziehung er zu seinem Vater aufbaut, wie er sich den Vater erfindet. So kommt für Utlu auch eine gewisse Oralität in den Text.

Zu den Leerstellen im Roman befragt, die etwa die Kindheit des Vaters betreffen, über die es nur wenig Informationen gibt, erwähnt Deniz Utlu deren soziale Dimension.

„Es gibt natürlich immer Leerstellen. Man kann keinen Menschen, egal wieviel er hinterlassen hat, vollständig erinnern. Aber jemand, der aus ärmeren Verhältnissen kommt, vielleicht migriert ist, der oft seinen Wohnort gewechselt hat, familiär oder gesellschaftlich wenig eingebunden war, hinterlässt weniger Zeugnis über sein Leben.  Auch Yunus findet wenig vor und merkt, er weiß eigentlich wenig über den Vater und seine Geschichte. Und alles was er findet ist ein wenig unbefriedigend. Er kann zwar Menschen befragen, die ihn kannten, aber es ist dann immer die Perspektive dieser Menschen auf den Vater viel mehr als der Vater selbst, was er da erhält.

Und da kommt die Kraft des Erzählens, des literarischen Erfindens, der Imagination zum Tragen und wird für das Buch poetologisch maßgeblich. Es heißt ja auch im Roman „Ich suche nach meinem Vater vor allem in mir selbst.“ Alle Informationen, die Yunus von außen bekommt, führen ihn zu einer Person, die nicht sein Vater gewesen ist, die er vielleicht auch gewesen ist, aber nicht der Vater, den er sucht.“

Deniz Utlu glaubt, dass Literatur und Kunst auch bei der Trauerbewältigung helfen können. Und dass sie auch Antworten geben können auf die Frage, wie man eine allgemeine Erinnerungskultur in der Gegenwart gestalten könnte.

„Jedes Erinnern braucht auch ein Erzählen, sonst gerät es in Vergessenheit. Deshalb ist das Erzählen eigentlich strukturell schon mit dem verbunden, was wir Erinnerung und Erinnerungskultur nennen, und jeder Text, der sich damit literarisch befasst, interveniert beinah automatisch in das, was wir Erinnerungskultur nennen. Ich habe da keine Botschaft, aber den Wunsch vielleicht, dass  ein Text Herz und Verstand öffnen kann in diesen Zeiten, in denen wir uns gerade befinden. Sich erinnernd der Gegenwart in einer Art und Weise begegnen, die das Herz nicht vergisst und den Verstand nicht außen vor lässt.“

Deniz Utlu Gespräch Bayerischer Buchpreis 2023
Deniz Utlu, Alexandra Stiller, Petra Reich (v.l.)

———————————————————————–

Beiden Autor:innen möchten wir nochmals von Herzen danken. Für ihre interessanten, äußerst lesenswerten Romane, aber auch vor allem für die Zeit, die sie sich genommen haben, um mit uns darüber auf der Buchmesse in Frankfurt zu sprechen. Es waren beides sehr angenehme, anregende und schöne Gespräche. Lieben Dank dafür!

Teil 2, das Gespräch mit Stephanie Bart über ihren Roman Erzählung zur Sache, erscheint hier in KürzeBayerischer Buchpreis 2023 – Stephanie Bart und Deniz Utlu


Mehr zum Bayerischen Buchpreis könnt ihr hier erfahren.

ayerischer Buchpreis 2023 – Stephanie Bart und Deniz Utlu

Alle Fotos ©Alexandra Stiller

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert