Nun folgt meine Zusammenfassung zur Lektüre im Oktober 2023 endlich mal ein wenig zeitnah. Durch die intensiven Tage auf der Frankfurter Buchmesse, die bei mir bereits am Montag begann und mit einer Lesung von Richard Ford erst am darauffolgenden Montag endete, kam ich diesen Monat nur auf fünf gelesene Bücher. Zwei davon sind für den Bayerischen Buchpreis 2023 nominiert, der am 7. November verliehen wird.
Stephanie Bart – Erzählung zur Sache
In ihrem für den Bayerischen Buchpreis 2023 nominierten Roman Erzählung zur Sache unternimmt die Autorin Stephanie Bart eine Reise ins Herz der RAF. Die Rote Armee Fraktion hielt seit 1968 bis in die frühen 1990er Jahre die Bundesrepublik Deutschland in Atem. Mit terroristischen Anschlägen, Geiselnahmen und über 30 Morden kämpfte die nach ihren Gründungsmitgliedern im Volksmund auch „Baader-Meinhof-Bande“ genannte Terrorgruppe gegen den Staat. Seit 1972 saßen die Führungsmitglieder im Hochsicherheitsgefängnis in Stammheim ein. Diese Zeit, die Gerichtsverhandlungen, die von den Gefangenen durchgeführten Hungestreiks, die von RAF-Mitgliedern der sogenannten zweiten Generation versuchten Gefangenenfreipressungen durch Geiselnahmen und Anschläge (Deutscher Herbst 1977) und der Tod aller vier Führungsmitglieder (neben Andreas Baader und Ulrike Meinhof Jan Carl Raspe und Gudrun Ensslin) in der sogenannten Todesnach von Stammheim bilden den Kern des akribisch recherchierten Romans. Dabei hält ihn Stephanie Bart vielstimmig, mit schnellen, unvermittelten Perspektivwechseln, bleibt aber überwiegend nah an der Perspektive der RAF, im Speziellen der von Gudrun Ensslin. Im Ton bleibt sie auch dicht an dem der marxistisch-theoretischen RAF-Schriften, der Gerichtsprotokolle, der Dokumente. Das macht das Buch herausfordernd, sowohl was den Inhalt als auch das Lesen betrifft. Dieses Buch will erarbeitet werden. Am Ende habe ich mich tief in den Baader-Meinhof-Komplex hineingewühlt. Lohnend!
Ich durfte mit Stephanie Bart ein sehr schönes Gespräch führen, das ihr hier nachlesen könnt.
Ein zweites für den Bayerischen Buchpreis nominiertes Buch, deutlich zugänglicher. Deniz Utlu schreibt dort mit vielen autobiografischen Bezügen über den Jungen Yunus, dessen Vater einst von der südostanatolischen Stadt Mardin nach Deutschland emigriert ist und hier in Deutschland in Hannover eine Familie gegründet hat. Als Yunus dreizehn Jahre alt ist, erleidet der Vater zwei Schlaganfälle, die seinen Hirnstamm stark schädigen. Zehn Jahre lebt der Vater, aufopferungsvoll gepflegt von der Mutter, in einem Locked-in-Syndrom, unfähig sich zu bewegen oder zu sprechen. Nach seinem Tod kommen Erinnerungen, Gedanken, Fragen und Zweifel im nun erwachsenen Yunus hoch. Dabei reflektiert er immer wieder auch den Vorgang des Erinnerns selbst. Ein sehr berührendes, intimes, schönes Buch ist so entstanden.
Auch mit Deniz Utlu konnte ich auf der Buchmesse ein Gespräch über sein Buch führen.
Roskva Koritzinsky – Keine Heiligen
Beim Gastlandauftritt Norwegens zur Frankfurter Buchmesse 2019 entdeckte ich das schmale Büchlein ‚Ich habe die Welt noch nicht gesehen‘ von Roskva Koritzinsky. Wie eine meiner geschätztesten Autorinnen, die Norwegerin Hanne Ørstavik, ebenfall in den unglaublich schön ausgestatteten Ausgaben des Karl Rauch Verlags erschienen und von Andreas Donat übersetzt. Damals ein Zufallsfund, haben mich die spröden Erzählungen der Norwegerin sehr gefesselt. Poetisch, manchmal märchenhaft muten die sieben Erzählungen im neuen Erzählband Keine Heiligen an. Eine große Melancholie und Einsamkeit durchweht sie nahezu alle, sie berühren sich, umkreisen sich durch ihre Protagonisten, beinhalten eine große, fast existentielle Trauer. Alle ihre Protagonist:innen suchen den Weg hinaus in eine, wie es einmal heißt, „richtigere Welt“. Wie diese aussehen soll, wo sie liegen könnte, bleibt ihnen wie auch den Lesenden verborgen. So wie vieles in der Schwebe bleibt. „Wie unversehrt muss man sein, um eine Trauer so lange in sich tragen zu können, wie es nötig ist?“
Den neuen Erzählungen gelingt es allerdings nichtrichtig, mich zu erreichen. Sie bleiben mir auf nicht näher zu fassende Weise fern. Vielleicht war der Zeitpunkt nicht der richtige. Ich erwäge eine erneute Lektüre, vielleicht auch der mich vor einigen Jahren so berührenden Geschichten aus ‚Ich habe die Welt noch nicht gesehen‘.
Aber noch eines gibt es zu erwähnen: Meine große Freude, jedes Mal wenn ich auf die rote(!) Fadenheftung gestoßen bin. 🙂
Yasmin Polat – Im Prinzip ist alles okay
Der Einstieg in Yasmin Polats Debütroman fiel mir nicht ganz leicht. „Podcasterin, Journalistin und Instagram-Ikone“ wird die Autorin charakterisiert, ist nach eigenem Bekunden großer TikTok- und Popkultur-Fan. Das alles ist nicht unbedingt meine Spielwiese. Und dann die Themen des Romans: Gewalt in Familie und Beziehung, Kampf mit der Mutterrolle, postnatale Depressionen, Instagram-Stress, Beziehungskrisen, Selbstfindung. Das alles hat man doch schon so oft gelesen. Und spielt außerdem nicht in meiner Altersklasse. Habe ich gedacht und schon ein bisschen geflucht, dass Julia von @kirchnerkommunikation mir das Buch so schön ans Herz gelegt hat, dass ich nicht nein sagen konnte.
Aber, um es kurz zu machen, ich habe das Buch trotz aller Voreingenommenheit gern gelesen. Yasmin Polat schreibt klar und ungekünstelt, mit einer gewissen Portion Humor, reflektiert und ohne allzu viele Klischees. Wie sich die 30-jährige Miryam Topal als frischgebackene Mama herumschlägt mit eigenen Ansprüchen, Instagram-Blasen und von außen an sie herangetragenen Erwartungen, wie immer wieder die belastende, gewaltvolle Kindheit und die mehr oder weniger zerbrochenen Familienbande an ihr zerren, wie sie zwischen dem Wunsch nach Sicherheit und Geborgenheit und dem nach Selbstbestimmung und Selbstfindung hin und her taumelt. Das ist schon sehr überzeugend und sehr gut lesbar umgesetzt, die Figuren sind zudem ambivalent. Ein wirklich souveränes, unterhaltsames und dabei relevantes Buch.
Lọlá Ákínmádé Åkerström – In allen Spiegeln ist sie schwarz
Muna Saheed, Brittany-Rae Johnson und Kemi Adeyemi – drei sehr verschiedene Schwarze Frauen, die aus verschiedenen Gründen in Schweden landen. Muna ist aus Somalia geflohen, nachdem ihre gesamte Familie getötet wurde. Nun lebt sie zunächst in einem Flüchtlingsheim und dann in einer Wohngemeinschaft, arbeitet als Reinigungskraft. Brittany-Rae, deren Familie aus Jamaika stammt, lernt als Flugbegleiterin den superreichen Jonny von Lundin kennen, der zu ihr eine regelrechte Obsession entwickelt, und verlässt die USA, Freund und Familie, um ihn zu heiraten. Kemi wiederum ist in den USA eine sehr erfolgreiche Marketing-Expertin mit nigerianischen Wurzeln gewesen und wird von Jonnys Firma nach Schweden abgeworben. Die Lebenswege der drei Frauen berühren sich über von Lundins Firma, kommen sich aber nicht wirklich nah. Das ist vielleicht einer der Gründe für die nicht sehr glücklich verlaufenden Schicksale: mangelnde Solidarität und Empathie untereinander. Am Ende wird ihr Leben in Stockholm auf die eine oder andere Weise an den engen Klassen- und Rassengrenzen Schwedens scheitern.
Lọlá Ákínmádé Åkerström schreibt nicht immer stilistisch überzeugend und arbeitet auch mit einigen Klischees. Dennoch bleibt man an der Lektüre dran und ist nach und nach mehr von der thematischen Komplexität und dem guten Lesefluss, den das Buch bietet, fasziniert.