Der amerikanische Autor Colson Whitehead, dessen wunderbare frühere Bücher John Henry Days und Der letzte Sommer auf Long Island meiner Meinung nach bei uns viel zu wenig Beachtung fanden, hat sich spätestens mit seinen doppelt Pulitzer und National Book Award gekrönten Romanen Underground Railroad und Die Nickel Boys, die sich mit sehr harten Themen aus der Vergangenheit der USA beschäftigen, als einer der erfolgreichsten und bekanntesten afroamerikanischen Schriftsteller etabliert. Nach diesen düsteren Büchern staunte die Literaturkritik nicht schlecht, als Colson Whitehead 2021 mit Harlem Shuffle eine fast heitere, auf jeden Fall beschwingte Gaunerkomödie veröffentlichte, der er nun einen zweiten Teil (insgesamt ist eine Trilogie geplant) folgen lässt – Die Regeln des Spiels.
Allerdings war bereits Harlem Shuffle bei allem Swingenden, das ihm schon mit dem Titel beigegeben wurde, den heiteren Episoden, dem Schelmenstück des Hauptprotagonisten, des Möbelhändlers und Teilzeitganoven Ray Carney, und dem plotgetriebenen Erzählen mit dem düsteren Hintergrund eines mehr und mehr zerfallenden Stadtteils, der grassierenden Korruption vieler Lokalpolitiker und Polizisten und der wachsenden Kriminalität auch ein alles andere als nostalgisches, helles Porträt der Stadt New York in den 1960er Jahren.
New York, 1971
Nun befinden wir uns mit Die Regeln des Spiels in einem neuen Jahrzehnt. Und alles hat sich noch viel schlimmer entwickelt. Harlem zerfällt, die, die es sich leisten können und wollen, ziehen in andere Stadtviertel (obwohl sich die Situation in ganz New York verschlechtert), Gangsterbanden machen die Straßen zunehmend unsicher, Drogen, Prostitution und überall wird die Hand aufgehalten. Die Black Liberation Army, eine radikale Splittergruppe der Black Panther Party, die den bewaffneten Kampf für die Befreiung und Selbstbestimmung der afroamerikanischen Bevölkerung propagieren, verbreitet zusätzlich Angst und Schrecken und mischt in kriminellen Kreisen mit. Ausgebrannte Brownstones beherrschen das Straßenbild, da es für viele Hausbesitzer und Investoren lukrativer ist, die hohen Versicherungssummen einzustreichen und ihr Eigentum abfackeln zu lassen.
Mitten in diesem nicht sehr heiteren Setting begegnen wir Ray Carney wieder, der sich im ersten Teil Harlem Shuffle (dessen Lektüre zum Verständnis von Teil 2 aber nicht zwingend nötig ist) als Teilzeit-Hehler betätigte und sich am Ende nur gerade so aus dem kriminellen Milieu befreien konnte. Als Familienvater will er sich fortan nur noch seinem gut laufenden Möbelgeschäft widmen. Denn Ruhesessel gehen immer.
„Das Land steckte in einer Rezession, jeder spürte die Knappheit, aber zu Hause konnte man seinen komfortablen Thron genießen.“
Das Verhängnis kam mit den Jackson Five
Alles läuft gut, aber da kündigen die Jackson Five ein großes Konzert im Madison Square Garden an. An Tickets zu kommen ist fast unmöglich, aber Tochter May wünscht sich nichts sehnlicher. Könnte man da nicht alte Connections wieder aufleben lassen? Der korrupte Cop Munson beispielsweise hat doch seine Finger überall im Spiel. Und wie Ray schon beim Kauf der von seiner Frau Elizabeth so begehrten Wohnung in der Striver´s Row festgestellt hat:
„Wozu sollte ein fortlaufendes, durch regelmäßige Gewalt verkompliziertes kriminelles Unternehmen denn sonst gut sein, wenn nicht dazu, die eigene Frau glücklich zu machen“
Oder eben die eigene Tochter. Wobei dieser Ausflug in die Unterwelt nur eine einmalige Sache bleiben soll. Aber Cop Munson hilft natürlich nicht ohne Gegenleistung. Und so wird Ray von ihm als Fahrer engagiert. Ursprünglich nur, um kurz bei einer illegalen Pokerpartie abzuräumen, aber das Ganze entwickelt sich zu einem blutigen Rachefeldzug des abservierten Polizisten, der geradezu Pulp-Qualitäten erhält. Gar nicht so leicht für Ray, da wieder rauszukommen.
Das ist die erste von drei Episoden, die 1971, 1973 und 1976, im 200. Gründungsjahr der Vereinigten Staaten, spielen. Colson Whitehead macht Ray Carney nicht in allen Teilen zum Hauptprotagonisten. Im zweiten Abschnitt wechselt er zu einer auch aus Harlem Shuffle bekannten Figur. Der Außenseiter Pepper ist als Rausschmeißer, als Mann fürs Grobe bekannt und soll hier eine verschwundene Schauspielerin suchen. Rays Möbelladen ist Drehort für einen etwas zwielichtigen Billigfilm. Nun fürchtet man, dass Lucinda Cole, die mit einem Gangsterboss liiert ist, etwas zugestoßen ist. Außerdem muss weiter gedreht werden. Pepper macht sich auf die Suche. Und auch hier fließt Blut.
In Episode 3 kehrt Whitehead wieder zu Ray Carney und seinem Möbelgeschäft zurück. Nun dreht es sich vorwiegend um die kriminellen Brandstiftungen und die von ihnen Profitierenden, die auch vor „Kollateralschäden“ wie versehentlich verbrennenden Menschen in den Häusern nicht zurückschrecken. Ray vermutet, dass einer davon der Lokalpolitiker und Jugendfreund seiner Frau Alexander Oakes ist. Dieser lässt sich natürlich nicht gern in seine Machenschaften hineinpfuschen.
Gangsterkomödie?
Oberflächlich gelesen, ist Die Regeln des Spiels tatsächlich wieder eine Gangsterkomödie und die „Helden“ Ray und Pepper irgendwie auch Sympathieträger, obwohl sie so einiges auf dem Kerbholz haben und auch vor Mord und Totschlag kaum zurückschrecken. Und ein wenig oberflächlich ist das Erzählte in all seiner extremen Detailfreudigkeit auch. Ein wenig zu viele Abschweifungen führen dazu, dass auch Konzentration und Interesse der Leserin immer wieder einmal abschweifen. Eine wirkliche Bindung zu den Figuren kommt eher nicht auf. Das liegt sicher auch am betont lässigen Erzählton, der oft ein wenig verspielt, manchmal auch ziemlich satirisch ist. Man merkt dem Text zumindest an, dass er seinem Autor Spaß gemacht hat.
Ein wenig leiden darunter die soziologischen, gesellschaftskritischen Beobachtungen, die durchaus vorhanden sind. Rassismus wird dann beispielsweise nur in Randbemerkungen registriert.
„Wie weit ist es gekommen, wenn man nicht mal mehr einen Haufen Neger mit getürkten Beweisen verknacken kann?“
So ein Polizist. Vor rassistisch gefärbten Worten wie dem N*Wort schreckt der Text auf ausdrücklichen Wunsch des Autors nicht zurück. Was aber im Zeitkontext durchaus schlüssig ist. Insgesamt liefert Colson Whitehead mit Die Regeln des Spiels wieder ein kritisches, aber auch liebevolles Porträt seiner Heimatstadt New York in den 1970ern ab. Lässig, heiter, ein wenig pulpig und sehr unterhaltsam. Der nächste Teil wird dann in den 1980er Jahren spielen.
Beitragsbild by Winston Vargas via flickr CC BY-NC 2.0 Deed
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Colson Whitehead – Die Regeln des Spiels
übersetzt aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Hanser Verlag August 2023, 384 Seiten, Fester Einband, 26,00