Lektüre November 2023

Zahlenmäßig etwas unterdurchschnittlich, was die gelesenen Seiten betrifft, aber durchaus präsentabel gestaltete sich für mich der Lesemonat November 2024, denn nur fünf Bücher, dafür aber mehr als 2000 Seiten hat die Lektüre diesen monats umfasst. Alle fünf Bücher waren gut bis sehr gut. Drei Frauen, zwei Männer und einmal quer über die Landkarte: kanadisch, kamerunisch, norwegisch, slowenisch und us-amerikanisch.

 

Margaret Laurence - Das GlutnestMargaret Laurence – Das Glutnest

Die Kanadierin Margaret Laurence (1926-1987) ist eine bei uns viel zu wenig beachtete Autorin. Ihre psychologisch präzisen und literarisch anspruchsvollen Frauen- und Gesellschaftsporträts finde ich einfach grandios. Der Eisele Verlag hat zum Gastlandauftritt Kanadas 2020 den 1. Roman aus der Manawaka-Reihe Der steinerne Engel (wieder)veröffentlicht und von der 90-Jährigen Kratzbürste Hagar Shipley war ich sofort begeistert. Zum großen Glück hat der Verlag mit Das Glutnest nun bereits den dritten Band herausgegeben und wieder steht ein Frauenleben im Zentrum.

Stacey MacAindra sitzt mit vier Kindern und einem schweigenden Mann zuhause fest und sieht alle ihre Lebensträume platzen, die sie so hoffnungsvoll hatte, als sie ihren provinziellen Heimatort, das der Reihe titelgebende Manawaka, verließ.
Für Laurence Kenner:innen: Stacey ist eben jene Schwester, die die zu Hause bei der besitzergreifenden Mutter zurückgebliebene Rachel im letzten Band Eine Laune Gottes so beneidete. 1969 erschienen, ist „Das Glutnest“ in der hervorragendem Übersetzung von Monika Baark so frisch wie eh und je. Bewusstseinsstrom, innerer Monolog, Dialoge und Beschreibungen wechseln sich ab. Höchste Zeit, Margaret Laurence zu entdecken.

 

Djaili Amadou Amal - Im Herzen des SahelDjaïli Amadou Amal – Im Herzen des Sahel

2020 erhielt die aus Kamerun stammende Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Djaïli Amadou Amal für ihren Roman Die ungeduldigen Frauen den Prix Goncourt des lycéens. In ihm schilderte sie eindringlich die Lage junger Frauen in Kamerun zwischen Unterdrückung, Zwangsverheiratung und Sehnsucht nach einem freieren, moderneren Leben.
Auch in Im Herzen des Sahel widmet sich Djaïli Amadou Amal diesem Themenkomplex.
Kondem und Faydé sind die zwei Frauen, die im Mittelpunkt der Geschichte stehen. Mutter und Tochter, zwei Generationen. Dabei ist Mutter Kondem selbst erst dreißig Jahre alt, das jüngste ihrer vier Kinder ist noch ein Baby. Ihr Mann ist seit längerer Zeit verschwunden. Dass er sie verlassen hat, glaubt sie nicht. Was ihm passiert ist, kann sie höchstens ahnen und fürchten. Denn ihr Dorf liegt im Norden Kameruns. Die Grenzen zum Tschad und zu Nigeria sind nah. Von dort drohen immer wieder Übergriffe der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram. Menschen werden entführt oder umgebracht, Dörfer verwüstet und niedergebrannt. Kondem und Faydé und ihr Dorf sind besonders gefährdet, da sie Christ:innen sind. Mit den Themen islamistische Gewalt durch Boko Haram, Klimawandel und soziale Ungleichheit spricht Djaïli Amadou Amal wichtige Themen an und bietet einen sachkundigen, empathischen Einblick in eine doch recht unbekannte Welt. Die Autorin setzt sich als muslimische Angehörige der Oberschicht Kameruns für die emanzipatorischen Bemühungen afrikanischer Frauen ein und gründete 2012 die Vereinigung „Femmes du Sahel“, die sich für Mädchenbildung und gegen Gewalt gegen Frauen einsetzt. Ein wenig „belehrend“ ist ihr Roman, der auch für junge Frauen und Mädchen sehr geeignet ist, schon. Ein Happy End deutet sich zumindest an. Auch sprachlich ist er eher schlicht. Dafür bietet er einen eindrucksvollen Einblick in das schwierige Leben vieler Frauen im ländlichen Kamerun, ist engagiert und relevant. Und deshalb unbedingt lesenswert.

 

Vigdis Hjorth - Die Wahrheiten meiner MutterVigdis Hjorth – Die Wahrheiten meiner Mutter

Auch die Norwegerin vigdis Hjorth bleibt ihrem bereits in Begeljots Familie angesprochenen Thema treu: Der dysfunktionalen Familie. Die Protagonistin Johanna, eine viele Jahre in den USA lebende Familie hat seit langem mit ihrer norwegischen Familie gebrochen. Einst hat sie ihren Mann für einen amerikanischen Zeichenlehrer verlassen und hat mit diesem jenseits des Atlantiks eine neue Familie gegründet und einen Sohn bekommen. Eine Tat, die die Familie nicht akzeptieren kann. Schon allein was die Leute nun reden! Dazu kommt, dass Johanna nun malt, eine Tätigkeit, die genauso zwielichtig ist wie ihr Lebenswandel. Durch zahlreiche Bilder fühlen sich die Familienangehörigen angegriffen. Der endgültige Bruch entstand dadurch, dass Johanna nicht zur Beerdigung ihres Vaters, mit dem sie eine äußerst schwierige Beziehung hatte, kam. Nun ist ihr amerikanischer Mann gestorben, der Sohn erwachsen. Johanna zieht es in ihre alte Heimat. vielleicht lässt sich das Verhältnis zur Mutter doch irgendwie reparieren oder zumindest klären. Johanna entwickelt dafür nahezu eine Obsession. Man spürt – das kann nicht gutgehen. Psychologisch und spannend, auch wenn Johanna eine sehr problematische Protagonistin ist.

 

Roman Rozina - Hundert Jahre BlindheitRoman Rozina – Hundert Jahre Blindheit

Der Slowene Roman Rozina entrollt mit seinem fast 600 Seiten starken Roman Hundert Jahre Blindheit ein großes Familientableau. Und ja, die Referenz zum großen Kolumbianer Gabriel García Márquez ist durchaus beabsichtigt, auch wenn bei Rozina kein magischer Realismus zu finden ist, sondern die Geschichte realistisch und chronologisch erzählt wird.
Es beginnt im Jahr 1900 in der Bergbauregion um Zagorje. Als der kleine Matija Knap das Licht der Welt erblickt, reißt ein durch Sturzregen verursachter Erdrutsch das halbe Dorf Podgorje mit sich. Auch der Hof der Eltern Ignacij und Terezija wird halb zerstört. Für Ignacij ist dies der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen und ihn zum Verkauf des Landes bringt. An den Schwur, den er seinem Vater Jakob gegeben hat, niemals an die Bergbaugesellschaft zu verkaufen, fühlt er sich nicht mehr gebunden. Die Arbeit im Bergwerk erscheint ihm so viel einfacher und profitabler als der ungeliebte Hof. Jakob, schon lange Witwer und Alkoholiker, setzt darauf seinem Leben ein Ende. Die siebenköpfige Familie Knap zieht hinunter ins Tal.
Das ist der Beginn des Romans, der einhundert Jahre slowenische und Familiengeschichte erzählt. Von der k.u.k. Monarchie in den Ersten Weltkrieg, vom Königreich Jugoslawien in den Zweiten Weltkrieg, von der Besatzung durch die Achsenmächte zur Sozialistischen Föderativen Republik und schließlich zur Unabhängigkeit 1991 erlebt Matija und mit ihm die Leser:innen zahlreiche politische und gesellschaftliche Wandel. Besonders der Zerfall des Bergbaus in der Region in den 1980er Jahren, der zunehmend unrentabler wird, der für die ansässige Bevölkerung aber fast heilig ist, bringt Unruhe und Verunsicherung in die Gegend. Als Matija 2000 stirbt, ist Slowenien immer noch tief gespalten.
2022 erhielt Roman Rozina für seinen großen Familien- und Gesellschaftsroman Hundert Jahre Blindheit den angesehenen slowenischen Kresnik Preis. Auch wenn es zwischendurch immer mal kleinere Längen gab und manchmal Figuren recht abrupt aus der Erzählung verschwanden, ist das Buch ein beeindruckendes Porträt der slowenischen Untersteiermark, ihrer Menschen und der dortigen Bergbautradition.

 

Colson Whitehead - Die Regeln des SpielsColson Whitehead – Die Regeln des Spiels

Nach den eher düsteren Büchern Underground Railroad und Nickel Boys veröffentlichte Colson Whitehead 2021 mit Harlem Shuffle eine fast heitere, auf jeden Fall beschwingte Gaunerkomödie, der er nun einen zweiten Teil (insgesamt ist eine Trilogie geplant) folgt – Die Regeln des Spiels.
Allerdings war bereits Harlem Shuffle bei allem Swingenden, das ihm schon mit dem Titel beigegeben wurde, den heiteren Episoden, dem Schelmenstück des Hauptprotagonisten, des Möbelhändlers und Teilzeitganoven Ray Carney, durch den düsteren Hintergrund eines mehr und mehr zerfallenden Stadtteils, der grassierenden Korruption vieler Lokalpolitiker und Polizisten und der wachsenden Kriminalität auch ein alles andere als nostalgisches, helles Porträt der Stadt New York in den 1960er Jahren. Nun befinden wir uns in den 70ern. Und alles hat sich noch viel schlimmer entwickelt. Harlem zerfällt, die, die es sich leisten können und wollen, ziehen in andere Stadtviertel, Gangsterbanden machen die Straßen zunehmend unsicher, Drogen, Prostitution und überall wird die Hand aufgehalten. Ausgebrannte Brownstones beherrschen das Straßenbild, da es für viele Hausbesitzer und Investoren lukrativer ist, die hohen Versicherungssummen einzustreichen und ihr Eigentum abfackeln zu lassen.
Bei Ray Carney läuft alles gut, aber da kündigen die Jackson Five ein großes Konzert im Madison Square Garden an. An Tickets zu kommen ist fast unmöglich, aber Tochter May wünscht sich nichts sehnlicher. Könnte man da nicht alte Connections wieder aufleben lassen?

 

 

 

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