„Die große Option“ – so wurde vollmundig die 1939, nach dem „Anschluss“ Österreichs, von Adolf Hitler und Benito Mussolini getroffene Vereinbarung zu Südtirol genannt. Die Bevölkerung des nach Ende des Ersten Weltkriegs Italien zugeschlagenen ehemaligen österreichisch-ungarischen Gebiets südlich des Brennerpasses sollte „frei“ wählen können, ob sie sich der schon seit 1922 von den regierenden Faschisten betriebenen Italianisierung unterordnen wollen oder aber die „Heim ins Reich“-Option wählen und umgesiedelt werden. Von den etwa 250.000 „volksdeutschen“ Südtirolern, was 80 % der Bevölkerung ausmachte, wählte 85% die letztere Möglichkeit. Bis zur Besetzung Norditaliens durch die Deutschen im September 1943 wanderten 75.000 Südtiroler ins Deutsche Reich aus. So auch die Familie von der Sepp Mall in seinem für den deutschen Buchpreis 2023 nominierten Roman Ein Hund kam in die Küche erzählt.
„Option“ – das klingt so freiwillig, als hätten nicht Propaganda, Drohungen („Alle bleibenden Südtiroler werden nach Süditalien umgesiedelt“) und Druck (Verbot der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit) Einfluss auf die Entscheidung genommen. Und als wären nicht zahllose Familien zerrissen worden zwischen den „Optanten“ und den „Dableibern“. Und hätten nicht zahllose Kinder und oft auch Frauen sowieso keine Wahl gehabt, sondern hätten den Entscheidungen der Väter und Männer folgen müssen.
Der Abschied
So auch der elfjährige Ludi, dessen beste Freundin Kathrina zwar auch zu denen gehört, die fortgehen und sich schon auf „Voradelberg“ freuen, wo auch immer das genau ist. Ludis Vater ist als überzeugter Hitler-Anhänger gleich Feuer und Flamme von der Vorstellung, zum Reich dazuzugehören. Die Mutter trennt sich schwer und eher widerwillig. Aber sie fügt sich. Genauso wie sie sich fügt, als Ludis kleiner Bruder Anton, genannt Hanno, der ein wenig „zurückgeblieben“, aber sehr geliebt ist, nach der Ankunft in Innsbruck sofort ins St. Josefs-Institut in Mils gebracht wird. Die Barmherzigen Schwestern dort könnten sich viel besser um ihn kümmern und ihn fördern. Der Mutter ist nicht wohl, aber wir Lesenden wissen, was droht. Hanno wird bald in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren verbracht und irgendwann flattert die Nachricht herein, er sei an einer Lungenentzündung verstorben.
Die Mutter verfällt in eine Depression, der Vater ist längst zum Kriegsdienst eingezogen worden. Ludi ist mit seinem Kummer allein. Obwohl, nicht ganz. Im kleinen (fiktiven) Örtchen Sonnau in Oberösterreich, wo er mit seiner Mutter einquartiert wird und bei den Einheimischen alles andere als willkommen ist, findet er in Siegfried einen guten Freund, der ihm ein wenig über seinen Kummer hinweghilft. Und Hanno ist für ihn nicht völlig verschwunden. In seinen (Tag)Träumen besucht ihn der kleine Bruder.
“Hanno war nicht wirklich tot. Wenn ich allein war, tauchte er unvermittelt auf, so wie ein Gespenst. In unserer Bubenkammer, bevor ich einschlief, oder wenn ich in der Umgebung herumstreunte. Vielleicht war es auch nur seine Seele, die aussah wie er, wer weiß?”
Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.
Aber auch hier können Ludi und seine Mutter nicht bleiben. Sie ziehen weiter nach Flatz in Tirol. Dass das Weggehen eine tragische Fehlentscheidung war, wird klar, lang bevor die Niederlage des Deutschen Reichs besiegelt ist. Die Familie wird nach Kriegsende wieder in den Vinschgau zurückkehren, heim nach Mariendorf. Doch die Familie ist gespalten, der dagebliebene Bruder des Vaters Rudi, nimmt sie nicht mehr im Elternhaus auf. Der aus Russland zurückkehrende Vater ist seelisch zerbrochen und keine große Hilfe. Und wieder gilt es einen Neuanfang zu wagen.
Leise, zart und poetisch erzählt Sepp Mall in Ein Hund kam in die Küche von einer Option, die keine war, von zerstörten Familien, verlorenen Heimaten und von denen, die immer die größten Verlierer aller Kriege sind, den Kindern und Frauen.
„Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.“
wird Novalis im Motto zum Buch zitiert. Was aber, wenn das Zuhause keines mehr ist? Die Sehnsucht bleibt. Sepp Mall ist ein wunderbares Buch gelungen, das einen Platz auch auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis durchaus verdient gehabt hätte.
Eine weitere Besprechung findet ihr beim Bookster HRO
Beitragsbilder Zintosch7, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commonsvia Wikimedia
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Sepp Mall – Ein Hund kam in die Küche