Tomer Dotan-Dreyfus – Birobidschan

Birobidschan ist ein realer und ein utopischer Platz. Die weit in Fernost, fast an der Grenze zu China gelegene autonome russische Oblast ist tatsächlich weltweit der einzige Ort, der Jiddisch als (zweite) Amtssprache hat. In den 1930er Jahren wurden dort Juden aus der ganzen Sowjetunion angesiedelt. Was aber als ein großzügiger Akt Stalins verkauft wurde, diente vor allem zur Urbanmachung dieses höchst unwirtlichen, hauptsächlich aus Taiga und Sumpf bestehenden Gebietes. Und der Vertreibung von Juden aus den urbanen Zentren. Und nach 1948 zeigte sich das deutlich antisemitische Gesicht der damaligen Sowjetunion in den stalinistischen Judenverfolgungen. Da hatten bereits viele Juden Birobidschan bereits wieder verlassen. Und auch heute leben – trotz der Amtssprache – kaum noch welche dort. Der 1987 in Tel Aviv geborene und schon mehr als 10 Jahre in Berlin lebende Tomer Dotan-Dreyfus präsentiert in seinem für den Deutschen Buchpreis 2023 nominierten Roman aber noch ein anderes, ein utopisches, ein jüdisch-sozialistisches Birobidschan, weit entfernt von der Realität.

Ein utopischer Ort

Seine Geschichte beginnt ungefähr im Jahr 2000, springt dann recht wild und unvermittelt in den Zeitebenen hin und her und präsentiert ein nicht immer ganz leicht zu durchschauendes Figurenensemble. Da sind das heutige Liebespaar Rachel und Alex und Joel, der Bruder. Boris, der älteste Einwohner, der schon in den 1930er Jahren hier ankam. Dmitri, der als Waisenjunge mit einer Kindergruppe hierher gebracht wurde. Die Freunde Sascha und Gregory, die sich zum „Tunguska-ereignis“ aufmachen, dem riesigen Krater, der 1908 vermutlich nach einem Meteor-Einschlag entstand, und von denen nur einer lebend zurückkommt. Die Frauen Julia, Sulamith und Josephin. Es ist nicht immer einfach, den zu verschiedenen Zeiten agierenden Personen zu folgen. Aber sie alle leben in einer Art jüdischer Utopie, einer alternativen Realität, frei von Unterdrückung, Religion, Antisemitismus und Nationalismus. Die religiösen Juden haben sich in der Nachbargemeinde eine eigene Utopie geschaffen.

Eines Tages wird der alte Boris tot aufgefunden. Manche sprechen von einer Schussverletzung, andere von wilden Tieren. Wie auch immer, mit diesem Tod bricht eine Art Unheil über Birobidschan herein.

„Der Mord an Boris veränderte die Zeit in Birobidschan, wie die Atombombe von Hiroshima die der ganzen Welt verändert hatte. Die Möglichkeit des Bösen war auf einmal da, und das war unumkehrbar.“

Das Böse

Zwei bewaffnete Männer aus Moskau treffen ein, vorgeblich Bärenjäger, aber wer weiß. Und ein merkwürdiges, stummes Mädchen taucht auf, das bisher nur der alte Boris sehen konnte. Die Atmosphäre wird zunehmend unheimlich und mystisch-übersinnlich. Neben dem Bären tauchen Wölfe auf und kommen den Behausungen bedrohlich nah, die Natur ist dunkel-dräuend und es gibt weitere Todesfälle. Der Übergang von einer Zeitebene in eine andere scheint möglich zu sein. Vielleicht sogar eine Parallelität der Zeiten. Zumindest am Tunguska-Krater.

„Eine Reise nach Tunguska ist eine Zeitreise, und manchmal, wenn man deprimiert ist, ist der Grund dafür eine Unübereinstimmung der Zeitschichten.“

Die märchenhafte Geschichte von Birobidschan ist unterhaltsam und amüsant auch durch den Witz von Tomer Dotan-Dreyfus, der vielleicht ein jüdischer ist. Melancholie schwebt auf jeden Fall immer mit und manchmal fühlt man sich an jiddische Erzähltraditionen, wie etwas  Isaac Bashevis Singer erinnert. Trotz der geschichtlichen Fakten ist der Roman seltsam der Zeit enthoben, spielen zeitgeschichtliche und politische Ereignisse kaum eine Rolle. Das macht ihn nicht unpolitisch. Und natürlich auch nicht weniger lesenswert.

„Die Zukunft ist vielleicht das, was du zu gestalten versuchst, schön, aber du gestaltest sie aus der Vergangenheit heraus.Ich meine: Wenn deine Augen offen sind, schaust du nach vorne. Aber jedes Mal, wenn du deine Augen schließt, um zu schlafen, zu träumen, nachzudenken, all dies, dann drehen sich deine Augen nach innen, und du schaust in deine dunkle Vergangenheit. Erst wenn man tot ist, schaut man mit geschlossenen Augen nach vorne, und dieses Vorne ist schwarz wie bis dahin nur die Vergangenheit.“

 

Beitragsbild: Darstellung des Tunguska-Meteoriten und des Geologen Kulik auf einer sowjetischen Briefmarke aus Anlass des 50. Jubiläums des Ereignisses, Post of USSR, Public domain, via Wikimedia Commons

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 Birobidschan Tomer Dotan-Dreyfus .
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Tomer Dotan-Dreyfus – Birobidschan
VQ Februar 2023, gebunden, 324 Seiten, € 24,00

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