Alice Zeniter – Machtspiele

In ihrem Roman Die Kunst zu verlieren, der 2017 in die Endauswahl für den Prix Goncourt gelangte und den Prix Goncourt des lycéens gewann, schrieb Alice Zeniter autofiktiv über ihre Familie mit französischen und algerischen Wurzeln. Es ist ein sehr bewegendes Buch über das Schicksal der sogenannten Harkis, den Algeriern, die der Kolonialmacht Frankreich nahe standen und für sie auch in den Krieg zogen. Nach der Unabhängigkeit wurden sie verfolgt und mussten zum Teil nach Frankreich fliehen. Der neue Roman Machtspiele hat nun ein völlig anderes Thema und Alice Zeniter enthüllt die ebenfalls arabischen Wurzeln ihrer Protagonistin L. nur spät und en passant. Sie haben fast keine Bedeutung mehr.

L. bewegt sich im „Drinnen“. Die Welt des World Wide Web ist für sie auch eine Flucht aus einer Pariser Banlieu, aus einer beengten Kindheit mit einer alleinerziehenden Mutter. Im Internet fühlt sie sich zuhause, hier kennt sie sich aus, hier findet sie Gleichgesinnte. Die Schule hat sie mit wenig Erfolg abgeschlossen, am Computer ist sie ein Genie. Sie steht dem Anonymus-Kollektiv nahe, das politisch mit Protestaktionen für die Redefreiheit, die Unabhängigkeit des Internets und gegen verschiedene Organisationen, darunter Scientology, staatliche Behörden und global agierende Konzerne kämpft. Privat hilft L. Frauen, die von ihren (Ex)-Partnern digital ausspioniert, verfolgt und bedroht werden, u.a. ihrer schwarzen Freundin Fatou. Ihr Geld verdient sie mit Computer-Serviceleistungen.

Hacker

Eines Tages wird ihr aus Deutschland stammender Freund Elias wegen eines Hackerangriffs auf eine Überwachungssoftware verhaftet. Ab diesem Moment fühlt auch L. sich bedroht, sieht schwarz gekleidete Männer sie verfolgen, erhält undurchsichtige Nachrichten. Kurz zuvor hat sie auf einer Party Antoine kennengelernt, der einem ganz anderen Milieu entstammt. Ihm gehört die zweite personale Perspektive in Machtspiele.

Antoine stammt aus der bretonischen Provinz. Immer Einserschüler, zieht es ihn an eine der Pariser Elite-Hochschulen, eine der Grandes écoles. Dort unter all den Privilegierten zwar nur noch Mittelmaß, erhält er nach seinem Abschluss einen Job bei einem der sozialistischen Abgeordneten der Assemblée nationale. Eine Arbeit, die ihm zwar einiges an Anerkennung, aber noch mehr an Frust beschert. Der Abgeordnete ist wie viele seiner Kollegen nur am eigenen Machterhalt interessiert, eitel und ziemlich arrogant. Antoines große Ideale und Erwartungen an die Politik sind zumindest ziemlich enttäuscht worden. Jetzt steckt die sozialistische Partei in einer tiefen Krise. Im Land toben die Gelbwestenproteste. Antoine träumt von einer Schriftstellerkarriere und einem Buch über den Spanischen Bürgerkrieg.

Bedroht wie sich L. gerade fühlt, sucht sie die Hilfe des neu kennengelernten Antoine, der sich auch gleich bereiterklärt, sie bei sich aufzunehmen. Als sie sich auch dort nicht mehr sicher fühlt, bringt er sie zu seinem alten Schulfreund Xavier, der in der Bretagne noch den alten Familienhof führt, ihn aber mittlerweile zu einer Art alternativen Kommune umgewandelt hat.

Viele themen

Zum Glück wählt Alice Zeniter für ihre Machtspiele nicht den platten Weg – zwei Menschen unterschiedlicher Herkunft prallen aufeinander, verlieben sich. Hier geht es stattdessen um eine überraschende (aber warum eigentlich) Solidarität zwischen zwei Menschen (auch wenn sich Antoine schon zu L. hingezogen fühlt). Es geht um verschiedene Möglichkeiten, sich gesellschaftlich zu engagieren, um soziale Klassen, um den Gegensatz von Stadt und Land, der in Frankreich besonders groß ist, um französische Politik, die Machtspiele zwischen Regierung, Gelbwesten, Konzernen, um Cybersicherheit und Moral im Internet – also um ziemlich viel. Trotzdem wirkt der Roman nicht überfrachtet. Alice Zeniter erzählt leicht, spannend, etwas ironisch und mit großer Ruhe. Sie ist eine großartige Beobachterin und Stilistin.

Das Ende ist versöhnlich, vielleicht ein wenig zu viel heile Welt in der Landkommune. Aber durch seine Offenheit auch wieder sehr gelungen. Und ist es nicht schön, ein hervorragendes Buch so zu beenden: mit einem Lagefeuer, mit Tanz, mit einer Geschichte.

 

Beitragsbild via Pixabay

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Alice Zeniter - Machtspiele.

Alice Zeniter – Machtspiele
Übersetzt von: Yvonne Eglinger
Berlin Verlag September 2023, 416 Seiten, Hardcover, € 26,00

 

 

 

 

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