Wie schnell das Jahr wieder vorüberging. Und wie immer beschleunigte es auf den letzten Metern nochmal. Durch den Wegfall eines „echten“ vierten Advents war die Vorweihnachtszeit eigentlich ein Witz. Ich liebe diese Zeit eigentlich und nehme mir immer vor, sie mehr auszukosten, zu genießen, sie irgendwie zu „strecken“. Aber wie immer ist mir das auch dieses Jahr nicht gelungen. Es gibt immer noch viel zu viel zu erledigen, aufzuarbeiten etc. Gelesen habe ich aber dennoch viel, ich bin froh, da mittlerweile eine Routine zu besitzen (ein bisschen tatsächlich wie eat, sleep and read ;)). Also kann ich euch auch für den Dezember 2023 eine schöne, bunte Mischung hervorragender Lektüre bieten.
Eine Zusammenfassung meiner Jahreshighlights wird auch – ein wenig verspätet – folgen.
Helga Flatland – Die Resonanzen
Helga Flatland erzählt in Die Resonanzen, wie bereits in ihren wunderbaren vorherigen Romanen Eine moderne Familie und Zuunterst immer Wolle von verfehlten Beziehungen, dysfunktionalen Familien und ambivalenten Protagonist:innen. Ohne zu werten überlässt es die Autorin dabei ihren Leser:innen, sich ein Bild zu machen. Zum Beispiel von der Osloerin Mathilde, die wegen einer Affäre mit ihrem Schüler ihre Schule verlassen muss und sich ein Häuschen auf dem Land mietet. Es ist die Zeit der Pandemie und mit Mathilde und dem Ich-Erzähler und seiner Familie, die ihr das Haus vermieten, prallen Stadt und Land aufeinander.
Ein wenig gehadert habe ich mit der Sprache der deutschen Übersetzung. Das liegt aber weniger an den Übersetzerinnen als an einer Besonderheit der norwegischen Sprache. Bokmål und Nynorsk sind die zwei schriftlichen Varianten der norwegischen Sprache, beide sind offiziell Landessprache. Gesprochen wird meist in lokalen Dialekten, die mehr oder auch weniger mit einer der beiden Schriftsprachformen übereinstimmen. Und ob nun Bokmål oder Nynorsk der Vorzug gegeben wurde, war auch eine politische Entscheidung. Viele Menschen aus der Arbeiterklasse und die Landbevölkerung bevorzugten Nynorsk, und das will Helga Flatland sicher in ihrem Roman zum Ausdruck bringen. Dies in ein überzeugendes deutsches Idiom zu übertragen ist schwierig und meiner Meinung nach hier nicht sehr gelungen. Zumindest muss man sich an Johs eigentümliche Sprechweise zunächst gewöhnen. Das soll aber bitte niemanden davon abhalten, diesen gelungenen, psychologisch überzeugenden und gekonnt konstruierten Roman zu lesen. Er oder sie würde etwas verpassen.
Tomer Dotan-Dreyfus – Birobidschan
Birobidschan ist ein realer und ein utopischer Platz. Die weit in Fernost, fast an der Grenze zu China gelegene autonome russische Oblast ist tatsächlich weltweit der einzige Ort, der Jiddisch als (zweite) Amtssprache hat. In den 1930er Jahren wurden dort Juden aus der ganzen Sowjetunion angesiedelt. Nach 1948 zeigte sich das deutlich antisemitische Gesicht der damaligen Sowjetunion in den stalinistischen Judenverfolgungen. Da hatten bereits viele Juden Birobidschan bereits wieder verlassen. Und auch heute leben – trotz der Amtssprache – kaum noch welche dort.
Tomer Dotan-Dreyfus präsentiert in seinem für den Deutschen Buchpreis 2023 nominierten Roman aber ein anderes, ein utopisches, ein jüdisch-sozialistisches Birobidschan, weit entfernt von der Realität. Seine Geschichte beginnt ungefähr im Jahr 2000, springt dann recht wild und unvermittelt in den Zeitebenen hin und her und präsentiert ein nicht immer ganz leicht zu durchschauendes Figurenensemble. Die märchenhafte Geschichte von Birobidschan ist unterhaltsam und amüsant auch durch den Witz von Tomer Dotan-Dreyfus, Melancholie schwebt auf jeden Fall immer mit und manchmal fühlt man sich an jiddische Erzähltraditionen erinnert.
Sepp Mall – Ein Hund kam in die Küche
„Die große Option“ – so wurde die 1939 nach dem „Anschluss“ Österreichs von Adolf Hitler und Benito Mussolini getroffene Vereinbarung zu Südtirol genannt. Die Bevölkerung des nach Ende des Ersten Weltkriegs Italien zugeschlagenen ehemaligen österreichisch-ungarischen Gebiets südlich des Brennerpasses sollte „frei“ wählen können, ob sie sich der schon seit 1922 von den regierenden Faschisten betriebenen Italianisierung unterordnen oder aber die „Heim ins Reich“-Option wählen und umgesiedelt werden wollten. Auch die Familie des elfjährigen Ludi gehört zu denen, die fortgehen. Ludis Vater ist überzeugter Hitler-Anhänger, die Mutter trennt sich schwer und eher widerwillig. Aber sie fügt sich. Genauso wie sie sich fügt, als Ludis kleiner Bruder Anton, genannt Hanno, der ein wenig „zurückgeblieben“, aber sehr geliebt ist, nach der Ankunft in Innsbruck sofort in eine Heil- und Pflegeanstalt gebracht wird.
Irgendwann flattert die Nachricht herein, er sei an einer Lungenentzündung verstorben. Dass das Weggehen eine tragische Fehlentscheidung war, wird klar, lang bevor die Niederlage des Deutschen Reichs besiegelt ist. Die Familie wird nach Kriegsende wieder in den Vinschgau zurückkehren, heim nach Mariendorf. Doch die Familie ist gespalten, der aus Russland zurückkehrende Vater seelisch zerbrochen und wieder gilt es einen Neuanfang zu wagen. Leise, zart und poetisch erzählt Sepp Mall von einer Option, die keine war, von zerstörten Familien, verlorenen Heimaten und von denen, die immer die größten Verlierer aller Kriege sind, den Kindern und Frauen.
Die Mutter ist vor Kurzem gestorben. Sie hat der Tochter das einst vom Großvater erbaute Haus hinterlassen. Doch anders als bei vielen ähnlich beginnenden Texten ist Bungalow der Norwegerin Ingerhill Johansen nicht von Melancholie, bittersüßen, nostalgischen oder auch verbitterten Erinnerungen geprägt. In den sehr kurzen, manchmal nur wenige Zeilen langen Abschnitten herrscht ein seltsames Unbehagen, eine gewisse Düsternis, wenn auch oft mit einer Prise makaberem Humor. Hier spricht eine zutiefst verunsicherte Frau, reiht in Kapiteln wie „Zimmer“, „Dach „, „Keller“, aber auch solch körperlichen wie „Augapfel“, „Nabel“ oder „Atem“ Reflexionen, Beobachtungen und Kindheitserinnerungen der Lehrerin, die die Ich-Perspektive besitzt, aneinander.
Eine Handlung findet sich nicht. Wie in einem Puzzle setzt sich in dem schmalen Buch so die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, die Verunsicherung, die Einsamkeit der Frau und die Last, die das im Niedergang befindliche Elternhaus ihr zunehmend bereitet zu einem ungefähren, schwer fassbaren Porträt zusammen. Wie der Verlag schreibt: „Der Verfall des Elternhauses löst eine innere Inventur aus“. Die poetisch-knappe Sprache und die Vielschichtigkeit, die verschiedenste Interpretationsansätze erlaubt, lädt zu einem erneuten Lesen ein. Das Haus, wir erfahren es bereits im einleitenden Kapitel, ist dem Abriss geweiht.
L. bewegt sich im „Drinnen“. Die Welt des World Wide Web ist für sie auch eine Flucht aus einer Pariser Banlieu, aus einer beengten Kindheit mit einer alleinerziehenden Mutter. Im Internet fühlt sie sich zuhause, hier kennt sie sich aus, hier findet sie Gleichgesinnte. Die Schule hat sie mit wenig Erfolg abgeschlossen, am Computer ist sie ein Genie. Sie steht dem Anonymus-Kollektiv nahe, das politisch mit Protestaktionen für die Redefreiheit, die Unabhängigkeit des Internets und gegen verschiedene Organisationen, darunter Scientology, staatliche Behörden und global agierende Konzerne kämpft. Privat hilft L. Frauen, die von ihren (Ex)-Partnern digital ausspioniert, verfolgt und bedroht werden. Eines Tages wird ihr aus Deutschland stammender Freund Elias wegen eines Hackerangriffs auf eine Überwachungssoftware verhaftet.
Ab diesem Moment fühlt auch L. sich bedroht, sieht schwarz gekleidete Männer sie verfolgen, erhält undurchsichtige Nachrichten. Kurz zuvor hat sie auf einer Party Antoine kennengelernt, der Asisstent eines sozialistischen Abgeordneten der Assemblée nationale ist. Ihm gehört die zweite personale Perspektive in Machtspiele. Es geht um verschiedene Möglichkeiten, sich gesellschaftlich zu engagieren, um soziale Klassen, um den Gegensatz von Stadt und Land, der in Frankreich besonders groß ist, um französische Politik, die Machtspiele zwischen Regierung, Gelbwesten, Konzernen, um Cybersicherheit und Moral im Internet – also um ziemlich viel. Trotzdem wirkt der Roman nicht überfrachtet. Alice Zeniter erzählt leicht, spannend, etwas ironisch und mit großer Ruhe. Sie ist eine großartige Beobachterin und Stilistin.
Mit Lichtspiel hat Daniel Kehlmann einen unterhaltsamen, stellenweise sehr ironisch-sarkastischen Roman über eine bedeutende Persönlickeit der deutschen Filmgeschichte und gleichzeitig ein Zeitbild aus dem nationalsozialistischen Deutschland und seiner Kulturszene geschaffen. Der Österreicher Georg Wilhelm Pabst war vor 1933 Regisseur bedeutender Filme wie Die freudlose Gasse, Die Büchse der Pandora und Die Dreigroschenoper und galt wegen seiner politischen Ansichten als „der rote Papst“. Er verließ Deutschland. Zunächst in Frankreich, dann in den USA gelang ihm aber keine Anknüpfung an seine früheren Erfolge. Beim Besuch seiner Mutter in Österreich wurden er und seine Familie 1939 vom Kriegsbeginn überrascht und konnten nicht mehr ausreisen. Daraufhin arrangierte er sich mit dem Regime.
Alles Gute für 2024!
Danke, lieber Matthias. Für dich auch! Schön von dir zu hören.