Valerie Bäuerlein – Die Unvollständige

Eine junge Frau – sie bleibt im gesamten Roman namenlos – streift durch Berlin, zu Fuß, im Bus, mit der S-Bahn. Grund für die Verunsicherung, die Ziellosigkeit ihrer Bewegung ist der Verlust einer Freundin, man erfährt es gleich im ersten Absatz. Tala, mit der die Absolventin der Filmakademie einen Film drehen wollte, Tochter eines griechischen Vaters und einer iranischen Mutter, faszinierende Zeitgenossin, rastlos Reisende. Valerie Bäuerlein lässt ihre Ich-Erzählerin in Die Unvollständige durch die Berliner Straßen wandern, nachdem sie vom schrecklichen Ende von Tala erfahren hat.

„Tala war letzte Woche von ihrer langen Reise zurückgekehrt, hatte ordentlich ihre Sachen ausgepackt und verstaut, sich dann ins Bett gelegt, um sich auszuruhen, wie sie sagte, sich aus ihrem Bett, aus ihrem Zimmer aber tagelang nicht mehr hinausbegeben; ihre Eltern wussten sich langsam nicht mehr zu helfen, da stand sie vor zwei Tagen endlich auf und ging hinaus, zu einem Spaziergang, wie sie sagte, sie wollte unbedingt allein gehen, und warf sich dann vor einen Zug.“

Wer war Tala?

Wer war Tala und warum hat sie sich auf so grausame Weise das Leben genommen? Der schmale Roman wird es nicht wirklich ergründen können. Genauso wenig wie die Erzählerin es auf ihren Streifzügen durch Berlin und durch ihre Erinnerungen zu fassen vermag. Sie kommt ihrer Freundin nur wenig näher, dafür stößt sie immer wieder auf Spuren aus der Vergangenheit Berlins, besonders denen der dunklen NS-Zeit.

„(…) als versetzte es mich, wie durch einen Riss in der Atmosphäre, in eine der anderen Zeitebenen, die diese Mauern bereits gesehen hatten, in die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus oder die DDR, ich hatte Schwierigkeiten, wieder zurückzufinden, beinahe so, als wanderte ich in den eigenen Erinnerungen, sofern es denn hier überhaupt so etwas wie ein Eigenes geben konnte, oder als sei plötzlich alles Gleichzeitigkeit.“

Mindestens genauso sehr wie Spuren von Tala sucht die Erzählerin Spuren von sich selbst. Auch sie hat ihren Platz im Leben anscheinend noch nicht gefunden.

„(…)an einem kleinen Strand hatte man ein Lagerfeuer errichtet, über dem Fleisch und Gemüse gegrillt wurde, und in diesem Halbdämmer, unter Menschen, die ich nicht kannte, zu denen ich aber plötzlich zu gehören schien wie in einer verrückten Utopie, fühlte es sich für einen Augenblick an, als könnte es tatsächlich auch für mich einen Ort geben.“

So wenig wie die Erzählerin werden die Leser:innen greifen können, was ihr fehlt, was diese Ziel- und Orientierungslosigkeit hervorgerufen hat. Das ist aber auch nicht entscheidend. Wir folgen ihr in ihren Gedanken, Erinnerungen und ganz konkret durch eine sehr präzise beschriebene Hauptstadt, ihre Straßen, Parks, Erinnerungsorte.

„Als ich mich ein wenig besser zu fühlen begann, fuhr ich bis in die Innenstadt hinein, zum Alexanderplatz oder zum Kurfürstendamm, lief aber nur durch überfüllte Straßen, wie ich ähnliche andernorts als Kind durchquert hatte, genauso anonym wie jetzt, schon in frühen Jahren hatte ich wohl das Vergessen der Städte gesucht, war förmlich in ihnen untergetaucht, ein noch unvollständiger Mensch, der mit sich und seinem gesamten Dasein im Unreinen war, in diesen Momenten aber zumindest frei, zu gehen, wohin ihm beliebte (…)“

Großartiger Debütroman

Valerie Bäuerlein arbeitet in Die Unvollständige  mit langen Sätzen, die aber nie ihr Ziel verlieren und von großer sprachlicher Schönheit sind. Die Streifzüge ihrer namenlosen Protagonistin unterbricht sie mit Briefen von Tala, die diese von ihrer großen Asienreise vor dem Suizid geschrieben hat. Sie sind rückwärts datiert, der erste stammt also von ihrem letzten Aufenthaltsort vor der Rückkehr – Koh Tao, die Schildkröteninsel im Golf von Thailand. Davor kommen sie aus Bangkok, Laos, Hongkong, Peking, Wladiwostok, Moskau – Briefe, die viel über die besuchten Orte, einiges über gemachte Bekanntschaften, aber wenig über Tala verraten. Sie wird, wie die Erzählerin, eine Unvollständige bleiben. Vollständig überzeugt allerdings bleibt die Leserin zurück, die sehr staunt und beeindruckt ist von diesem großartigen Debütroman.

 

Beitragsbild by Photo by Christina Watkins via pexels

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Valerie Bäuerlein – Die Unvollständige
Kjona August 2023, 160 Seiten, Gebunden, € 22,00

 

 

 

 

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