„So viele Bücher. Wozu braucht er die denn alle?“ Der Ausruf des Zimmermannburschen gleich in der ersten Szene des neuen Romans Betrug von Zadie Smith erheitert jeden Buchliebhaber, jede Buchliebhaberin – hat man einen solchen Spruch doch selbst in der einen oder anderen Variante schon x-mal gehört. Hier hat die stattliche Anzahl von Büchern der Bibliothek des Schriftstellers William Harrison Ainsworth den Boden ebendieser durchbrechen lassen und ein beträchtliches Loch in der Decke des darunterliegenden Salons hinterlassen. Der spöttisch-ironische Ton des ersten historischen Romans der englischen Erfolgsschriftstellerin ist damit vorgegeben.
Neben Ainsworth ist auch die zweite und vielleicht wichtigere Hauptfigur des Romans in dieser Szene zugegen: Mrs. Eliza Touchet, Cousine und Haushälterin. Wie oft im 19. Jahrhundert ist sie gebildet und blitzgescheit, aber – da selbst Witwe und nur unzureichend finanziell abgesichert – auf Zuwendung und Unterstützung männlicher Verwandter angewiesen. Ihr Mann ist einst mitsamt dem kleinen gemeinsamen Sohn verschwunden und einige Jahre später waren beide tot.
„Doch sie konnte nichts dagegen tun: Sie hatte leben wollen! Obgleich sie stets gewusst hatte – schon seit sie einkleines Mädchen war -, dass es sich bei diesem Wunsch nicht um ein für Frauen schickliches Verlangen handelte, womöglich noch nicht einmal um ein gottgefälliges. Sie wollte leben. (…)
Wie es wohl wäre, einen Namen für all die vielen unterschiedlichen Personen und Bedürfnisse zu haben, die sie in sich trug? Doch ihr Name lautete Mrs. Touchet.“
William Harrison Ainsworth
Eliza, die nach dem Tod der ersten Mrs. Ainsworth zunächst die Mutterrolle für die drei Töchter übernommen hat, ist erste Leserin, Vertraute und zeitweilige Geliebte des Schriftstellers, dessen Roman „John Sheppard“ sich zeitweise besser verkaufte als der zeitgleich erschienene „Oliver Twist“ von Charles Dickens. Charles Dickens ist Freund, Konkurrent und Feind in einem. Aber schon zu der Zeit, in der Zadie Smith Betrug spielen lässt – ab 1866 – beginnt der Ruhm des einstmals berühmten William Harrison Ainsworth zu bröckeln. Heute ist er nahezu unbekannt.
„Doch wer konnte aus solchen Dialogen schon viel machen? Rast fort, ihr Elemente! Grollt, ihr Donner! Zuckt auf, merkwürd´ge Flammen, flücht´ge Gäste! Schon in der Jugend hatte William die literarische Bedeutung der Witterungsverhältnisse aufs Gravierendste überschätzt. Sein Stück war schauderhaft – und lang!“
Charles dickens
Dass seine besten Zeiten vorbei sind, ahnt der Autor unzähliger pathetischer Romane, hält aber unverdrossen an seiner Arbeit fest. Zadie Smith präsentiert ihn als etwas unbedarften, gutmütigen Patriarchen, der im fortgeschrittenen Alter seine einstige Magd Sarah ehelicht. Die gemeinsame Tochter Clara ist noch im Kleinkindalter, während seine drei erwachsenen Töchter vergeblich auf Heiratskandidaten warten. Der Neid auf den erfolgreicheren Dickens zerfrisst Ainsworth. Dickens selbst kommt im Roman, vor allem in Elizas Augen (aber wohl auch bei Smith), gar nicht gut weg. Beispielsweise mit diesem Zitat des Schriftstellers:
„Persönlich müssen wir doch eingestehen, dass wir es als höchst verstörend empfinden, würde unser eigener Quell häuslichen Glücks es für nötig erachten, sich hinter einem kleinen Tisch nebst Wasserkaraffe und Glas zu verschanzen und aus dieser Festung heraus öffentliche Reden zu schwingen.“
Dabei schaut die Autorin eigentlich sehr liebevoll, wenn auch scharfsinnig und gnadenlos auf ihr Personal. Eliza ist bei ihr eine unkonventionelle, geistig unabhängige Philanthropin. Die durch Klasse, Rasse und Geschlecht in eng geschnürten Korsetten steckende Gesellschaft des 19. Jahrhundert macht es den Menschen, vor allem den Frauen aber nicht gerade leicht.
„Im Geiste wurde sie bereits in ein eisiges, den Frauen vorbehaltenes Nebenzimmer verschleppt – weit weg vom Feuer und den Debatten der Männer -, um dort über Rezepte für Plumpudding, Pläne für die baufälligen Schulen und das beklagenswerte Geschlechtsleben der Armen zu plaudern. (…)
Öffentliches Reden erfordert die Freiheit, Reden vor der Öffentlichkeit zu halten ohne Furcht vor Missbilligung oder Hohn von Seiten der Männer, woran selbst unter den angeblich so aufgeklärten Gentlemen kein Mangel herrschte.“
(Man vergleiche mit dem Dickens-Zitat weiter oben.)
Das viktorianische England
Das viktorianische England steckt voller sozialer Spannungen und voller Rassismus. Zwar wurde die Sklaverei mit dem Slavery Abolition Act von 1833 endgültig abgeschafft, aber der Kolonialismus blüht weiterhin. Eliza ist erklärte Abolitionistin, setzt sich also für die Abschaffung der Sklaverei auch in den USA ein. Ins Zentum von Betrug rückt Zadie Smith den sogenannten „Tichborne-Fall“, der seinerzeit ein riesiges Aufsehen erregte und dem Eliza und die neue Mrs. Ainsworth, die ehemalige Hausangestellte Sarah, als Vertreterinnen unterschiedlicher Herkunftsklassen begeistert folgen.
1866 meldete sich der seit mehr als zehn Jahren vermisste Sir Robert Tichborne, der vermeintlich einem Schiffsunglück vor der südamerikanischen Küste zum Opfer gefallen war und dem ein enormes Erbe in Aussicht stand, auf die von seiner Familie aufgegebenen Suchanzeigen. Merkwürdigerweise sah er dem Vermissten aber so gar nicht ähnlich, ließ jegliche Bildung vermissen, schien sogar seine eigentliche Muttersprache Französisch völlig vergessen zu haben. Nur seine Mutter und der ehemalige Schwarze Hausangestellte Andrew Bogle bestätigten seine Identität.
Daraufhin brach ein Rechtsstreit mit der Familie aus, der nach dem Tod der Mutter besonders heftig entbrannte. Gerade das „einfache Volk“ solidarisierte sich in der Öffentlichkeit vehement mit dem „Anwärter“, entgegen allen offensichtlichen Beweisen, während die Gegenseite in ihm den einst vor Steuerschulden nach Australien geflohenen Metzger Arthur Orton zu identifizieren meinte. Ein wahrhafter Jahrhundertprozess, der regelrecht fanatisierte Massen mobilisierte und zu einer Art Jahrmarktgetümmel ausartete. Wie sich bei ihnen Lügen und Falschmeldungen in einem Kampf von Populismus gegen Vernunft behaupteten – das scheint völlig uns völlig gegenwärtig.
„Und dann kommt Sir Roger und versucht nach Kräften, den Vorhang vor der ganzen Arglist wegzuziehen! Na, selbstredend gefällt das denen nicht! Selbstredend versuchen die, ihn zu ruinieren, so gut sie können! Die Zeitungen sind alle gegen ihn – was sagt uns das? Auf wessen Seite stehen die wohl? Auf der von den einfachen Leuten? Anständigen, normalen Leuten wie Ihnen? Von wegen!“
Ein Jahrhundertprozess
Eliza und Sarah wohnen dem Gerichtsprozess in London so oft wie möglich bei. Und wir Lesenden folgen ihnen in den Gerichtssaal. Eliza entwickelt dabei eine große Faszination für den Hausdiener Bogle, der sich dem „Anwärter“ so hingebungsvoll an die Seite stellt. Wir hören mit Eliza in einer längeren Passage seine Geschichte, über sein Heranwachsen als Sklave auf der Zuckerrohrplantage „Hope“ auf Jamaika, die unfreiwillige Übersiedlung mit seinem „Herrn“ Edward Tichborne nach England, seine Freilassung. Diese berührende Geschichte wird linear erzählt, während Zadie Smith ansonsten in Betrug die Zeit- und Erzählebenen munter wechselt, bis in die 1830er Jahre zurückgeht.
Leichtfüßig und witzig entführt Zadie Smith ihre Leser:innen mit ihrem Roman in eine ferne Zeit, die in so manchen Dingen sehr gegenwärtig wirkt. Nicht zuletzt aufgrund des großen Personalaufgebots, zu dem auch viele historische Persönlichkeiten wie die Autoren Charles Dickens und William Makepeace Thackeray und der britische Karikaturist und Illustrator George Cruikshank (dessen Streit mit Ainsworth eine Art „running gag“ bildet) gehören, machen den Roman komplex. Durch kurze Kapitel und die Erzählkunst von Zadie Smith bleibt Betrug aber immer gut lesbar und sehr unterhaltsam. Betrug ist ein großartiges Gesellschaftsporträt des viktorianischen Englands mit all seinen sozialen und kolonialen Konflikten, seinem Sexismus, seinem Rassismus und der Enge seines Klassensystems.
Künstlerroman
Dazu ist er ein ironisch-witziger Künstlerroman, die Biografie einer tollen, in den Schranken ihrer Zeit feststeckenden Frau und nicht zuletzt die Geschichte einer großen, letztlich nicht nur nicht gelebten, sondern noch nicht mal recht erkannten Liebe. „Sie würde William davon erzählen, wenn sie wieder zu Hause war. Er würde sie verstehen. Das tat er immer. Sie teilten Zeitgenossenschaft, und die zählte aus Mrs. Touchets Sicht zu den engsten Verhältnissen, die in dieser verkommenen Welt überhaupt möglich waren. Inmitten von zwei Ewigkeiten aus nichts teilten William und sie eine nahezu identische Zeitspanne des Daseins. Sie kannten einander so lange schon.“
Das Buch endet 1882 mit dem Tod William Ainsworths und einem Aufbruch von Eliza, die ihr Manuskript namens „Betrug“ beendet hat. Da hat die Autorin ein wenig getrickst, sie gesteht es in ihrem Nachwort. Eliza Touchet – „stets in Teilen das Fantasiebild einer Frau“ – überlebte ihren Cousin nicht, sondern starb bereits 1869. In Zadie Smiths Roman lebt sie aufs Schönste weiter.
Betrug wurde häufig besprochen, z.B. bei Zeichen und Zeiten, Kulturbowle, Seitenhinweis und Bunte Gespinste
Beitragsbild: Der Tichborne Prozess 1873/74m court of Queen´s Bench, by Frederick Sargent, Public domain, via Wikimedia Commons
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Zadie Smith – Betrug
Übersetzt von: Tanja Handels
Kiepenheuer&Witsch November 2023, gebunden, 528 Seiten, € 26,00
Vielen lieben Dank für die Verlinkung!
Ich mochte gerade Zadie Smiths Figurenzeichnung der Eliza sehr und „Betrug“ ist wirklich ein außergewöhnlicher, großartiger historischer Roman und zudem eines der atmosphärischsten Bücher, die ich im vergangenen Lesejahr 2023 gelesen habe. Herzliche Grüße!