Malinda Albert Kabalana ist unzweifelhaft tot. Wie das passiert sein kann, ist ihm schleierhaft. War er zuvor wie so oft im Casino in Colombo und hat dort sein Geld verspielt? Oder hat er sich mit seinem Geliebten DD in einer Hotelbar getroffen? Oder hatte er ein „Geschäftstreffen“ mit einem Pressevertreter oder einem Mitglied einer Regierungs- oder aber einer Rebellenorganisation, zwischen denen der Fotograf als „Fixer“ Kontakte vermittelte und denen er Fotos aus dem Bürgerkrieg Sri Lankas verkaufte? Maali Almeida, wie er auch genannt wird, dreht sich alles im Kopf, während er in einer ungemütlichen Wartehalle Schlange steht. Der Protagonist im 2022 mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman Die sieben Monde des Maali Almeida von Shehan Karunatilaka ist tot, aber damit ist für ihn noch nichts zu Ende. Auf über 500 wilden, mitreißenden Seiten erzählt er vom „Dazwischen“ in dem er gelandet ist.
„Du wachst auf mit der Antwort auf die Frage, die sich jeder stellt. Die Antwort lautet: Ja, und die Antwort lautet: Genau wie hier, bloß schlimmer. Mehr ist nicht drin an Erkenntnis.“
Das Dazwischen
Es ist kein mild lächelnder Petrus oder Yama oder wer auch immer, der da auf den toten Maali Almeida wartet, um ihn ins Paradies oder eine neue Reinkarnation aufzunehmen. Der Raum, in dem er sich wiederfindet, ähnelt auf ungute Weise einer überlasteten Behörde. Genervte, unfreundliche Mitarbeiter, drängelnde und meckernde, manchmal auch feilschende Verstorbene. „Ins Licht“ gelangt man sowieso erst nach einer eingehenden Ohrenuntersuchung. Zum Glück ist die Maali zugeteilte „Helferin“ zumindest eine von der netteren Sorte. Dr. Ranee Sridharan, die (angelehnt an die 1989 ermordete Menschenrechtlerin Rajani Thiranagama) vor Kurzem selbst getötet wurde, gesteht Maali sieben Monde, das heißt sieben Tage im „Dazwischen“ zu, um seine Angelegenheiten zu regeln. Das wäre 1. herauszufinden, was geschehen ist und eventuell seine Mörder zu finden, 2. seinen „Nachlass“ zu sichern, d.h. die Negative von brisanten Fotos, die er von den Gräueln diverser Massaker angefertigt hat, und 3. seine liebsten Menschen vor Verfolgung zu beschützen. Auf einen Gott kann er da nicht bauen.
„Wie sonst ist der Wahnsinn der Welt zu erklären? Gibt es einen himmlischen Vater, muss er sein wie deiner: abwesend, faul und möglicherweise bösartig. Für Atheisten sind Entscheidungen rein moralisch. Finde dich damit ab, dass wir allein sind, und versuche, den Himmel auf Erden zu erschaffen. Oder finde dich damit ab, dass keiner zuschaut, und mach, wonach dir eben ist. Letzteres ist viel einfacher.“
Bürgerkrieg
Es ist 1990 und der Bürgerkrieg zwischen der singhalesischen Bevölkerungsmehrheit und den vorwiegend im Norden und Osten der Insel lebenden Tamilen ist im vollen Gange. 1983 waren die Spannungen zwischen den beiden ethnischen Gruppen eskaliert, als nach einem tamilischen Angriff auf eine Militäreinheit, bei dem 13 Soldaten starben, landesweit Pogrome gegen die ethnische Minderheit stattfanden, die bis zu 5000 Tote forderten. Bei Kämpfen der Tamil Tigers (LTTE), der kommunistischen singhalesischen Guerillaorganisation JVP (die als Partei seit 1994 im sri-lankischen Parlament sitzt) und Regierungstruppen, bei denen eine unglaubliche Brutalität an den Tag gelegt wurde und keine Seite vor entsetzlichen Menschenrechtsverletzungen zurückschreckte und bei denen schließlich noch indische „Friedenstruppen“ mitmischten, starben bis zum Ende des Krieges 2009 bis zu 100.000 Menschen. Die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen besonders der Verbrechen der sogenannten Todesschwadrone ist noch immer nicht abgeschlossen.
„Hab keine Angst vor Dämonen; die Lebenden sollten wir fürchten. Menschliche Monster übertrumpfen alles, was Hollywood oder das Jenseits zu bieten haben.“
Maali Almeida lebt in gewisser Weise vom Bürgerkrieg. Als Fotograf reist er an die Orte des Geschehens, ist mittendrin, wenn Dörfer abgebrannt, Menschen abgeschlachtet werden. Durch seine vielen Kontakte ist er begehrter Ansprechpartner für ausländische Journalisten, für die Associated Press, für Regierungs- und Rebellenvertreter gleichzeitig. Als eine Art Versicherung hat er brisante Fotos von Politikern, VIPs und Wirtschaftsvertretern, die deren Verstrickungen beweisen könnten. Er bewahrt sie in einer Schachtel unter seinem Bett auf. Waren sie vielleicht der Grund für seine Ermordung?
Ein wilder Ritt
In einem atemlosen Ritt auf den Winden, zu Orten an denen sein Name ausgesprochen wird, unbemerkt auf den Schultern von Lebenden oder im Schlepptau von sich im Zwischenreich tummelnden Geistern, Ghuls und Dämonen, die um die Seelen kämpfen, folgen wir Maali in Rückblicken an die Orte des blutigen Bürgerkriegs, in seine WG, die er mit seiner besten Freundin Jaki und deren Cousin DD, Sohn des Ministers und zu dessen großem Ärger Geliebter von Maali, teilt, in dunkle Straßen und an den Beira Lake, wo so manche Leiche versenkt wurde. So wohl auch die seine.
„Es ist Morgen geworden, und die Busse haben sich mit Bürosklaven gefüllt und mit Schulkindern, die einmal welche werden sollen. An jedem Fahrzeug hängt ein Wesen wie du. Du spähst an der Autoschlange entlang und siehst auf jedem Dach einen Geist hocken.“
Das Diesseits
So wie im Übergang zum Totenreich die Geister, so tummeln sich im Colombo von Die sieben Monde des Maali Almeida korrupte Beamte, machtgierige Politiker, Marxisten und Kolonialbeamte, Vertreter der UN und Waffenhändler, Pressevertreter und NGOs. Manche sind reale historische Figuren, andere leicht verfremdet oder ganz fiktiv. Folter und Mord auf Erden, rachsüchtige Geister im Dazwischen. Auch auf die Göttin Kali treffen wir. Es ist ein manchmal verwirrendes, furioses, überbordendes, temporeiches Spiel. Eine grelle Vermischung von Pulp und Fantasy, ein wenig Dantes Inferno, ein wenig Fausts Hadern, Popkultur und Mythologie. Aber es ist auch eine Lektion in sri-lankischer Geschichte, es ist politisch und eine messerscharfe, oft bitterbös-sarkastische Gesellschaftsanalyse. Die gängigen postkolonialen Zuschreibungen erscheinen dabei zu einfach.
„Hier kommt die stinkende Wahrheit, atme tief ein. Wir haben es alles selbst in die Scheiße geritten.“
“Ceylon war einmal eine wunderschöne Insel, bevor sie sich mit Barbaren füllte.“ „Stimmt. Manche Länder importieren ihre Barbaren. Wir züchten unsere selber.“
Ein wenig anstrengend
Viele Handlungsstränge, ein umfangreiches Personenarsenal, die von Sehan Karunatilaka durchgehend verwendete Du-Perspektive und die Sprunghaftigkeit der Erzählung machen Die sieben Monde des Maali Almeida sicher nicht zu einem Easy-Read, ganz abgesehen von den vielen geschilderten Bürgerkriegsgrausamkeiten. Es ist aber auch ein moral-philosophisches Buch, ein religionskritisches.
„Du willst dem Universum dieselbe Frage stellen wie jeder andere. Warum werden wir geboren, warum sterben wir, warum muss überhaupt irgendetwas sein? Und das Universum antwortet nur: Keine Ahnung, lass mich in Ruhe. Das Leben nach dem Tod ist so verwirrend wie das Leben davor, das Dazwischen ist so willkürlich wie das Da-Unten. Also denken wir uns Geschichten aus, weil wir im dunkeln Angst haben.“
Der Wert des Lebens wird verhandelt, unser Umgang miteinander, mit unserer Umwelt und den Tieren. Es appelliert an die Verpflichtung, Zeugnis abzulegen, zu erinnern, auch wenn das Vergessen so viel leichter ist.
„Jede Zivilisation beginnt mit einem Völkermord. Das ist die Regel des Universums“
Tolle Mischung
Die Suche nach den Mördern, zwielichtige ermittelnde Polizeibeamte, die Rettung der Negative – das macht zu allem anderen noch einen spannenden Krimiplot auf. Am Ende kommt es zu einem regelrechten Showdown. Mir hat das großen Spaß gemacht, nicht zuletzt wegen des tiefschwarzen Humors, der immer präsent ist.
Am Ende gelingt es, die skandalösen Fotos in einer großen Ausstellung öffentlich zu präsentieren. Aber kaum jemand interessiert sich noch dafür. Das ist der bittere Dreh zum Schluss. Aber Maali Almeida ist dennoch fast versöhnt.
„Jeder von uns braucht seinen aussichtslosen Zweck, für den er leben kann, denn warum sonst überhaupt atmen?
Denn hat man erst mal das eigene Gesicht gesehen und die Augenfarbe erkannt, hat man die Luft geschmeckt und die Erde gerochen, hat man aus den klarsten Brunnen und aus den schmutzigsten Hähnen getrunken, dann ist das eigentlich das Beste, was man über das Leben sagen kann. Es ist nicht nichts.“
Beitragsbild: Colombo Lake Beira by sergei.gussev CC BY 2.0 Deed via Flickr
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Shehan Karunatilaka – Die sieben Monde des Maali AlmeidaVerlag: Buchverlag
Übersetzt von: Hannes Meyer
Rowohlt November 2023, 544 Seiten, gebunden, € 30,00
Ein Gedanke zu „Shehan Karunatilaka – Die sieben Monde des Maali Almeida“