Lektüre Januar 2024

Ein neues Jahr beginnt in der Regel mit viel Vorfreude und einigen guten Vorsätzen. Die Vorfreude auf einen spannenden Literaturfrühling ist auf jeden Fall da und es sind auch schon reichlich Neuerscheinungen hier eingetroffen. Den Januar aber habe ich noch mit Herbst-/Wintertiteln verbracht und einige ganz ausgezeichnete gelesen. Die meisten davon waren recht seitenstark, durch ihre hohe Qualität verging die Lektüre im Januar allerdings fast wie im Flug, so kann das Jahr 2024 gern weitergehen. Monatshighlight war Inger-Maria Mahlke mit Unsereins, sehr dicht gefolgt vom furiosen Die sieben Monde des Maali Almeida von Shehan Karunatilaka und dem amüsanten Betrug von Zadie Smith. . Auch ein tolles Debüt war dabei: Die Unvollständige von Valerie Bäuerlein.

Inger-Maria Mahlke - UnsereinsInger-Maria Mahlke – Unsereins

Das Jahr 1890, gediegene Bürgerhäuser im „kleinsten Staat des Kaiserreichs“ – jedem, der literarisch unterwegs ist, fällt da natürlich sofort Thomas Manns Nobelpreisroman Die Buddenbrooks ein. Der Roman Unsereins bezieht sich auch expliziert auf den berühmten Gesellschaftsroman über das Lübecker Bürgertums am Ende des 19. Jahrhunderts, zitiert ihn, ironisiert ihn, spielt damit. Aber auch wenn die Autorin den Ton des frühen Thomas Mann wunderbar adaptiert, ist Unsereins ein moderner Roman und so viel mehr als nur eine Referenz auf die Geschichte der berühmten Kaufmannsfamilie.
Aber Inger-Maria Mahlke will mit Unsereins eben keinen klassischen historischen Roman schreiben, in den wir Leser:innen uns hineinfallen lassen können, uns in die Figuren „hineinfühlen“ und uns dort gemütlich einrichten. Obwohl sie durch gründliche Recherche und eine ungeheure Detailfreudigkeit die damalige Atmosphäre perfekt einfängt und für ihren Roman das einladende, Unmittelbarkeit schaffende Präsenz wählt. Wir bleiben distanziert, schauen wie eine Eingangsbestätigung erwähnte Drohne von oben auf die Lübecker Gesellschaft, die Mahlke anders als Mann auch für die sogenannten „unteren Stände“ öffnet und das Panorama dadurch erweitert. Dafür mischt sie reale, fiktive und von den Buddenbrooks (die sich ja ihrerseits auf reale Personen beziehen) entliehene Protagonisten, legt besonderes Augenmerk auf die Frauen. Mahlke überlässt es den Leser:innen, Bezüge zu entdecken, Andeutungen zu verstehen und Leerstellen zu füllen. Diese vielschichtige Komposition fordert ein genaues Lesen, ist aber auch sehr unterhaltsam.

 

valerie-baeuerlein-die-unvollständigeValerie Bäuerlein – Die Unvollständige

Eine junge Frau – sie bleibt im gesamten Roman namenlos – streift durch Berlin, zu Fuß, im Bus, mit der S-Bahn. Grund für die Verunsicherung, die Ziellosigkeit ihrer Bewegung ist der Verlust einer Freundin, man erfährt es gleich im ersten Absatz. Tala, mit der die Absolventin der Filmakademie einen Film drehen wollte, Tochter eines griechischen Vaters und einer iranischen Mutter, faszinierende Zeitgenossin, rastlos Reisende. Valerie Bäuerlein lässt ihre Ich-Erzählerin in Die Unvollständige durch die Berliner Straßen wandern, nachdem sie vom schrecklichen Ende von Tala erfahren hat.
Wer war Tala und warum hat sie sich auf so grausame Weise das Leben genommen? Der schmale Roman wird es nicht wirklich ergründen können. Genauso wenig wie die Erzählerin es auf ihren Streifzügen durch Berlin und durch ihre Erinnerungen zu fassen vermag. Sie kommt ihrer Freundin nur wenig näher, dafür stößt sie immer wieder auf Spuren aus der Vergangenheit Berlins, besonders denen der dunklen NS-Zeit.
Mindestens genauso sehr wie Spuren von Tala sucht die Erzählerin Spuren von sich selbst. Auch sie hat ihren Platz im Leben anscheinend noch nicht gefunden.
So wenig wie die Erzählerin werden die Leser:innen greifen können, was ihr fehlt, was diese Ziel- und Orientierungslosigkeit hervorgerufen hat. Das ist aber auch nicht entscheidend. Wir folgen ihr in ihren Gedanken, Erinnerungen und ganz konkret durch eine sehr präzise beschriebene Hauptstadt, ihre Straßen, Parks, Erinnerungsorte.
Valerie Bäuerlein arbeitet in Die Unvollständige mit langen Sätzen, die aber nie ihr Ziel verlieren und von großer sprachlicher Schönheit sind. Die Streifzüge ihrer namenlosen Protagonistin unterbricht sie mit Briefen von Tala, die diese von ihrer großen Asienreise vor dem Suizid geschrieben hat. Sie sind rückwärts datiert, der erste stammt also von ihrem letzten Aufenthaltsort vor der Rückkehr – Koh Tao, die Schildkröteninsel im Golf von Thailand. Davor kommen sie aus Bangkok, Laos, Hongkong, Peking, Wladiwostok, Moskau – Briefe, die viel über die besuchten Orte, einiges über gemachte Bekanntschaften, aber wenig über Tala verraten. Sie wird, wie die Erzählerin, eine Unvollständige bleiben.

 

Elisabeth Bronfen - Händler der GeheimnisseElisabeth Bronfen – Händler der Geheimnisse

Die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen hat mit Händler der Geheimnisse ihren ersten Roman veröffentlicht. Darin geht es mit einigen autobiografischen Anklängen um die Theaterwissenschaftlerin Eva Bromfield, die nach dem überraschenden Tod ihres Vaters tief in die Familiengeschichte und besonders die Nachkriegszeit hineingezogen wird. Trotz einiger sprachlicher Schwächen liest sich das Buch bis zum Ende ungeheuer spannend.
Mitte der 1990er Jahre erhält Eva einen Anruf aus Amerika. Die Lebenspartnerin ihres teilt mit, dass George einen Schlaganfall erlitten hat und auf einer Intensivstation in Washington liegt. Eva selbst, Mitte dreißig, arbeitet gerade mit ihrer Freundin, der Fotojournalistin Sam, in München an einem Shakespeare-Projekt. Es geht darin um die von Eva so betitelte „Kryptomanie“ im Werk des berühmten Dramatikers des 16. Jahrhunderts. Damit meint sie die Anhäufung von rätselhaften Vorgängen und Geheimnissen in seinen Dramen. Sehr bald entdeckt sie auch im Leben des Vaters mehr Geheimnisse als sie sich je hatte vorstellen können. Verschwörungen, Intrigen, Komplotte – fast wie beim alten William. Und auch Elisabeth Bronfen, die selbst zu Shakespeare forscht und schreibt, bezieht sich in Händler der Geheimnisse zeitweise auf dessen Werke.
Der Vater stirbt unter mysteriösen Umständen, die Lebenspartnerin des Vaters und dessen Hausarzt verhalten sich merkwürdig und auch die NYPD ermittelt. Es geht um nationalsozialistische Raubkunst, Antisemitismus, die Nachkriegszeit – spannende Themen. Und doch fällt mein Urteil etwas zwiegespalten aus. Geschichte wenig tiefgründig und unglaubwürdig. Einige der Charaktere (Schwester Lena, Tash etc.) bleiben sehr flach. Und sprachlich driftet der Roman doch einige Male ins Triviale ab, hält sich das Erzählte an Oberflächlichkeiten.Und leider lässt die Autorin ihre Leser:innen am Ende im Regen stehen. Auch wenn ich eigentlich Geschichten mag, die Leerstellen lassen. Hier gibt es für all die angehäuften Fragen und Fährten so gar keine Antworten. So läuft das Ganze ins Leere. Schade!

 

Zadie Smith - BetrugZadie Smith – Betrug

Eines was ich bei Zadie Smith ganz besonders schätze, ist, dass sie sich mit jedem Buch an eine ganz andere Art Erzählung heran wagt. Da gibt es nicht die eine erfolgreiche Schiene, die immer wieder befahren wird. Essays, Erzählungen, männliche Protagonisten, weibliche, Kolonialismus, Großstadtleben, Gegenwart und Vergangenheit – immer wieder eine Überraschung. Jetzt hat sie einen historischen Roman geschrieben, im 19. Jahrhundert spielend, in London und Umgebung verortet und einen legendären Justizprozess in den Fokus nehmend. Der Tichborne Fall hat damals tatsächlich Massen bewegt und Arm gegen Reich positioniert. Am spannendsten für uns heute ist daran, wie irrational sich Menschen mobilisieren lassen.
Um was ging es: 1866 tauchte in London ein Mann auf, der behauptete, der seit 20 Jahren verschollene Sir Robert Tichborne zu sein, auf den in England ein riesiges Vermögen wartete. Obwohl das Schiff, mit dem Sir Robert unterwegs war, vor der südamerikanischen Küste Schiffbruch erlitt, es keine bekannten Überlebenden gab, der „neue“ Tichborne dem alten äußerlich kaum glich, nichts von dessen Bildung besaß und selbst seine einstige Muttersprache, das Französische, nicht mehr sprach, erkannten ihn seine alte Mutter und der ehemalige Hausdiener an. Die restliche Familie klagte dagegen. Erstaunlicherweise gelang es dem neu aufgetauchten Erbanwärter, der von Zeugen als der Metzger Arthur Orton identifiziert wurde, Massen an Menschen, vornehmlich aus den ärmeren Schichten, gegen jede Vernunft auf seine Seite zu ziehen und gegen „die da oben“ zu mobilisieren.
Etwas, das uns auch heute bekannt vorkommt.
Dieser Tichborne Fall bildet aber nur den Hintergrund zur Geschichte von Eliza Touchet, einer Witwe, die bei ihrem Cousin dem damals sehr beliebten Schriftsteller William Ainsworth den Haushalt führt.
Frauenroman, Emanzipationsroman, Künstlerroman, eine Geschichte über Sklaverei und Kolonialismus, Gerichtsroman und Gesellschaftsbild. Ich fand Betrug einfach grandios. Atmosphärisch, ironisch, witzig, bissig – Charles Dickens bekommt auch ordentlich eines auf die Mütze. Hat mir sehr gefallen.

 

Shehan Karunatilaka - Die sieben Monde des Maali AlmeidaShehan Karunatilaka  – Die sieben Monde des Maali Almeida

Maali Almeida dreht sich alles im Kopf, während er in einer ungemütlichen Wartehalle Schlange steht. Was ist mit ihm passiert? Der Protagonist im 2022 mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman Die sieben Monde des Maali Almeida von Shehan Karunatilaka ist unzweifelhaft tot, aber damit ist für ihn noch nichts zu Ende. Auf über 500 wilden, mitreißenden Seiten erzählt er vom „Dazwischen“ in dem er gelandet ist.
Es ist kein mild lächelnder Petrus oder Yama oder wer auch immer, der da auf den toten Fotografen wartet, um ihn ins Paradies oder eine neue Reinkarnation aufzunehmen. Der Raum, in dem er sich wiederfindet, ähnelt auf ungute Weise einer überlasteten Behörde. Genervte, unfreundliche Mitarbeiter, drängelnde und meckernde, manchmal auch feilschende Verstorbene. „Ins Licht“ gelangt man sowieso erst nach einer eingehenden Ohrenuntersuchung. Die ihm zugeteilte ‚Helferin“ gesteht Maali sieben Monde, das heißt sieben Tage im „Dazwischen“ zu, um seine Angelegenheiten zu regeln. Das wäre 1. herauszufinden, was geschehen ist und eventuell seine Mörder zu finden, 2. seinen „Nachlass“ zu sichern, d.h. die Negative von brisanten Fotos, die er von den Gräueln diverser Massaker des sri-lankischen Bürgerkriegs angefertigt hat, und 3. seine liebsten Menschen vor Verfolgung zu beschützen.
In einem atemlosen Ritt auf den Winden, zu Orten an denen sein Name ausgesprochen wird, unbemerkt auf den Schultern von Lebenden oder im Schlepptau von sich im Zwischenreich tummelnden Geistern, Ghuls und Dämonen, die um die Seelen kämpfen, folgen wir Maali in Rückblicken an die Orte des blutigen Bürgerkriegs, in seine WG, in dunkle Straßen und an den Beira Lake, wo so manche Leiche versenkt wurde. So wohl auch die seine. Eine grelle Vermischung von Pulp und Fantasy, ein wenig Dantes Inferno, ein wenig Fausts Hadern, Popkultur und Mythologie. Aber es ist auch eine Lektion in sri-lankischer Geschichte, es ist politisch und eine messerscharfe, oft bitterbös-sarkastische Gesellschaftsanalyse. Viele Handlungsstränge, ein umfangreiches Personenarsenal, die von Sehan Karunatilaka durchgehend verwendete Du-Perspektive und die Sprunghaftigkeit der Erzählung machen Die sieben Monde des Maali Almeida sicher nicht zu einem Easy-Read, ganz abgesehen von den vielen geschilderten Bürgerkriegsgrausamkeiten. Es ist aber auch ein moral-philosophisches Buch, ein religionskritisches. Kurz: einfach genial.

 

 Magdalena Saiger Was ihr nicht seht oder Die absolute Nutzlosigkeit des Mondes Magdalena Saiger – Was ihr nicht seht

Wie jedes Jahr seit 2017 startet im Dezember/Januar die Lesephase für den Bloggerpreis für Literatur Das Debüt. Zwei Bücher der Shortlist hatte ich bereits vor Bekanntgabe gelesen, Magdalena Saigers Debüt ist das erst von der Liste, das ich noch nicht kannte. Ich habe mich mit der Lektüre leider ziemlich gequält. Warum und um was es in dem Roman geht, erfahrt ihr im Blogartikel zum Preis, der im März erscheinen wird. Zum Glück war das Buch recht kurz.

 

 

 

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