2020 begeisterte Iris Wolff Kritik und Lesepublikum gleichermaßen mit ihrem Roman Die Unschärfe der Welt, jetzt ist mit Lichtungen ein genauso zartes und leises Buch neu erschienen.
„Es war und es war nicht.“ (Mündliche Einleitungsformel von Roma-Märchen)
Es geht um Leonhard, genannt Lev, und Kato, die beide Ende Dreißig sind und uns am Anfang des Romans auf einer Fähre begegnen. Es handelt sich dabei um Kapitel neun, denn Iris Wolff entwickelt den Roman chronologisch umgekehrt, geht mit jedem folgenden Abschnitt in unterschiedlich großen Sprüngen zeitlich zurück. Episodenhaft werden prägende Erlebnisse aus dem Leben von Lev und Kato, die eine sehr lange gemeinsame Geschichte haben, geschildert. Wir werden immer vertrauter mit den beiden Protagonist:innen, kommen dem Ursprung ihrer Verbindung immer näher. Dabei lässt Iris Wolff reichlich Leerstellen, vertraut ihren Leser:innen, diese zu füllen, sowohl was ihr Personal betrifft, als auch die Geschehnisse und den jeweiligen zeitgeschichtlichen Hintergrund.
„In allem gab es diese Dunkelstellen, wo die Erfahrung aufhörte und die Erinnerung anfing. Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augenblick des Geschehens, und wie sehr man sich auch bemühte, es tauchte nie wieder auf. Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand.“
Erinnern
Und ja, so geht Erinnern und so lernt man Menschen kennen: zunächst im Hier und Jetzt und ein wenig oberflächlich und wie in einem Blitzlicht, um sie dann (gegebenenfalls) immer besser und tiefer zu verstehen. Das macht beim Lesen manchmal ein bisschen Mühe, diese Rückwärtsbewegung, manches wiederholt sich zwangsläufig, aber Iris Wolff behält die Fäden immer sicher in der Hand, verknüpft souverän und zeichnet am Ende ein vielleicht lückenhaftes, aber überzeugendes Porträt zweier Menschen und ihrer Beziehung zueinander. Und erschafft zudem eine ganze Schar von interessanten Nebenfiguren.
Zu Beginn begegnen wir also Lev und Kato auf einer Fähre. Es ist das Ende einer längeren gemeinsamen Reise, die von Zürich über Paris und Nantes an die französische Mittelmeerküste führte. Es wird sehr bald klar, dass die beiden sich schon lange kennen, sich vertraut sind, dass aber irgendetwas zwischen ihnen vorgefallen ist. „Ich komme mit“, ist ein Satz von Kato, der Lev sowohl glücklich macht, als auch etwas verwundert. Sie werden zusammen heimreisen.
„Heim“, das ist ein kleines Dorf in der Region Maramuresch, ganz im Norden von Rumänien, wo Kato und Lev zusammen aufgewachsen sind und die Schule besucht haben. Während Lev dort geblieben ist, ist Kato – wir erfahren es erst in Kapitel 7 – nach der rumänischen Revolution Ende 1989 und der Öffnung des Landes mit einem deutschen Fahrradtourist fortgegangen, hat lange in Freiburg gelebt und zieht nun als Straßenmalerin durch Europa. Sie lebt in einem alten Range Rover und mehr oder weniger von der Hand in den Mund. Von Tom hat sie sich getrennt. „Wann kommst du?“ stand auf der letzten der vielen Postkarten, die sie über die letzten fünf Jahre an Lev geschrieben hat. In Kapitel 8 folgt er ihrer Aufforderung und trifft sie in Zürich.
Vom Weggehen und Bleiben
Man ahnt es bereits zu Beginn: Hier ist Liebe mit im Spiel. Aber sie verläuft asymmetrisch. Während der sensible Lev Kato eigentlich schon von Kindesbeinen an liebt, seitdem sie ihm, als er wegen eines traumatischen Schocks die Beine nicht mehr bewegen konnte, täglich die Hausaufgaben ans Bett brachte. Seitdem sind sie unzertrennlich gewesen. Aber für die energische, zupackende Kato war Lev stets nur ein guter Freund. Den sie dann 1989 verließ. In Lichtungen geht es um Herkunft und Identität, um Aufbruch und Freiheit, um Sehnsüchte und Verluste. Und um das Leben als deutsche Minderheit in Rumänien, um das Leben in einer Diktatur. Dezent, quasi als Hintergrundrauschen und sehr geschickt eingebaut, läuft die Zeitgeschichte mit: Das Ende der Diktatur Nicolae Ceaușescus, die Unterdrückung, Bespitzelung, das Schweigen zuvor.
„Man ist, einmal gegangen, immer ein Gehender.“
Lev stammt aus einer „gemischten“ Familie. Der Vater, der sehr früh tödlich verunglückt ist, war Rumäne, seine Mutter stammt aus Schäßburg in Siebenbürgen, gehört der deutschsprachigen Minderheit an. Sein Großvater Ferry war zunächst Österreicher, dann Rumäne, kurz Ungar und schließlich wieder Rumäne, ohne jemals den Ort zu wechseln. Im Herzen fühlte er sich immer als Österreicher und floh bereits vor der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“. Die Familie gilt fortan als politisch unzuverlässig. So wie die Freunde Camil und Milena, die ein Gasthaus betreiben.
Herkunft ist vielstimmig
Lev aber arrangiert sich. Er ist nicht politisch, ihn treibt es auch nicht fort. Zuhause, das sind seine Mutter Lis, seine Bunica (Oma) und das kleine, vertraute Dorf. Heimat – auch als 1986 nicht weit entfernt der Reaktor von Tschernobyl explodiert. Aber die Bevölkerung wird sowieso nicht informiert. Lev leistet seinen Militärdienst ab, arbeitet im Sägewerk von Imre, geht mit seinen Halbbrüdern zum Holzmachen in den Wald und tröstet sich mit Astrid über die nicht erwiderten Gefühle für Kato hinweg. Kapitel für Kapitel nähern wir uns der Kindheit von Lev, dem Verlust des geliebten Großvaters Ferry, dem Trauma, das er früh erlitt, dem Abschied des Vaters auf immer, als Lev fünf Jahre alt war.
Lichtungen ist ein melancholisches, ein leises Buch, Iris Wolff webt wieder einmal einen bildreichen, unaufgeregten Text. Jedes Kapitel ist mit einem Motto in einer andern Sprache, einem anderen Dialekt überschrieben. Das reicht von einem Song der Band The Cure bis zu Kinderreimen in Schäßburger Mundart. Herkunft ist vielstimmig. Und vielfältig sind Identitäten. Der Roman beginnt wie eine sommerliche Liebesgeschichte, ein ganz klein wenig kitschig vielleicht, um dann ernster, dunkler und um vieles tiefgründiger zu werden. Persönliche Geschichten und Zeitgeschichte – Iris Wolff ist es wieder gelungen, beides auf überzeugende, bezaubernde Art zu verbinden.
Beitragsbild: die.tine via Flickr CC BY-ND 2.0 Deed
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Iris Wolff – Lichtungen
Klett-Cotta Januar 2024, 256 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, € 24,00