Philosophenschiffe – es gab deren vermutlich mindestens fünf – fuhren im September und November 1922 von verschiedenen sowjetischen Häfen gen Westen. An Bord: missliebige Intellektuelle aus Wissenschaft und Kultur – Professoren, Studenten, Ärzte, Schriftsteller, Kunstschaffende und eben Philosophen. Diese von Lenin persönlich angeordneten Abschiebungen ins Ausland betrafen unbequeme und „verdächtige“ Personen der sowjetischen Intelligenzija, denen man nichts Konkretes vorwerfen konnte, derer man sich aber unbedingt entledigen wollte. Vermutlich ließen sich auch nicht alle Oppositionellen oder zumindest politisch unzuverlässigen Bürger klammheimlich liquidieren, so dass man einen anderen Weg suchte. Lenin sprach von einer „langzeitigen Säuberung Russlands“, Leo Trotzki von Ausweisungen, „da es keinen Anlass gab, sie zu erschießen, aber sie noch länger zu ertragen, war unmöglich.“ Der großartige Fabulierer Michael Köhlmeier hat nun Das Philosophenschiff hinzuerfunden.
Der 100. Geburtstag
Als Rahmenerzählung wählt er ein Gespräch zwischen seinem Ich-Erzähler und einer Hundertjährigen im Mai 2008. Zu deren Ehren hat der Österreichische Ingenieur- und Architektenverein in Wien ein Geburtstagsbankett ausgerichtet und den Erzähler dazu eingeladen. Dieser ist ein Schriftsteller namens Michael Köhlmeier – und zwar, wie das Geburtstagskind konstatiert, einer von der etwas windigen Sorte, einer, der Dinge erfindet und dann behauptet, sie seien wahr; einer, der seine Leser hinters Licht zu führen vermag. So die gefeierte Frau Professor Anouk Perlemann-Jacob. Und genau so einen suche sie, um ihm eine Episode aus ihrem Leben zu erzählen. Eine, die nicht bereits in den existierenden Biografien über sie erwähnt werde.
Anouk Perlemann-Jacob, 1908 in Sankt Petersburg geboren, ist dort gutbürgerlich aufgewachsen. Der Vater war ein erfolgreicher Architekt, die Mutter Ornithologin. Beide waren politisch nicht aktiv, verkehrten aber nach einem Aufenthalt in Paris mit Mitgliedern der russischen Bohème, etwa dem 1921 von den Bolschewisten erschossenen Schriftsteller Nikolai Stepanowitsch Gumiljow und dem späteren Attentäter Leonid Kannegiesser. Grund genug, sie auf einem der Philosophenschiffe 1922 des Landes zu verweisen. Angesichts der vielen Inhaftierungen und Erschießungen zu dieser Zeit ein eher mildes Los.
Wohl gemerkt: Die Fakten und viele der erwähnten Persönlichkeiten sind real. Anouk Perlemann-Jacob, das Philosophenschiff mit dem sie und ihre Eltern zur Ausreise gezwungen wurden und die nachfolgenden Geschehnisse entspringen der Fantasie von Michael Köhlmeier.
Das Philosophenschiff
Auf dem großen Luxusdampfer befinden sich, Anouks Familie eingeschlossen, lediglich 12 Passagiere, untergebracht in der dritten Klasse. Ein älteres Ehepaar nimmt sich noch vor dem Ablegen das Leben. Die Zurückbleibenden treffen sich nur zu den Mahlzeiten. Für die 14-jährige Anouk, die die einzige Jugendliche an Bord ist, ist das natürlich sterbenslangweilig. Deswegen macht sie sich nachts, wenn sich alle in ihren Kabinen eingeschlossen haben, auf Erkundungstour. Nach nur kurzer Fahrt liegt das Schiff quälende fünf Tage im Finnischen Meerbusen fest.
Darauf entdeckt Anouk auf dem Promenadendeck der Ersten Klasse einen gebrechlichen Mann im Rollstuhl. Wie sich herausstellt, handelt es sich um Wladimir Iljitsch Lenin persönlich. Lenin ist da zwar erst 52 Jahre alt, nach einem Attentat 1918, einer OP und verschiedenen erlittenen Schlaganfällen aber deutlich gezeichnet. Der etwas grummelige Mann im Rollstuhl und das Mädchen treffen sich Abend für Abend und reden. Bis das Schiff erneut stillsteht, und ein weiterer berühmter Passagier an Bord geht.
Säuberungen
Anouk Perlemann-Jacob berichtet dem Erzähler Michael Köhlmeier in launigem Plauderton von diesem einschneidenden Erlebnis. Manchmal flunkert sie ganz offensichtlich, manchmal nickt sie ein oder schickt ihren Zuhörer fort. Und so erfahren wir auf höchst unterhaltsame, heitere Weise von ganz grausigen, ungeheuerlichen Dingen. Vom Wüten der sowjetrussischen Geheimpolizei Tscheka, von Radikalisierung und wahrhaftem Verfolgungswahn der noch nicht fest im Sattel sitzenden bolschewistischen Machtelite, von Massenerschießungen und Verfolgung der Intelligenzija.
Ein Bogen zum Weggang vieler Intellektueller und gut ausgebildeter Russen 2022, zu eigenen ideologischen Verwirrungen in den Zeiten der RAF, zur Rolle von Literatur und gerade auch der Lyrik in Zeiten politischer Radikalisierung lässt sich schlagen und das macht das Buch nicht nur witzig-unterhaltsam und historisch erhellend, sondern auch aktuell. Und es steckt auch eine gute Portion Philosophie in Das Philosophenschif, Der Dank am Ende gilt Konrad Paul Liessmann, seit 1996 wissenschaftlicher Leiter des „Philosophicum Lech“, zu dessen Initiatoren wiederum Michael Köhlmeier gehört. Eine sehr empfehlenswerte Mischung.
Beitragsbild: eines der Philosophenschiffe Oberburgermeister Haken CC0 via Wikimedia Commons
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Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff
Hanser Verlag Januar 2024, Hardcover, 224 Seiten, 24,00 €
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