Bei Prima Facie von der australischen Dramaturgin Suzie Miller handelt es sich um die Romanfassung eines äußerst erfolgreichen Theatermonologs. Protagonistin ist die erfolgreiche Londoner Strafverteidigerin Tessa Ensler, leidenschaftliche Vertreterin des englischen Rechts bis sie selbst zum Opfer wird.
Prima Facie bedeutet in der Juristensprache „dem ersten Anschein nach“ und ist eine im britischen Common Law gebräuchliche Vorgehensweise. Dabei legt die Staatsanwaltschaft dem Richter Fakten über den Fall vor, die der Verteidiger, ein Barrister, dann auf Widersprüche, Lücken, Ungereimtheiten untersuchen und gegebenenfalls auseinandernehmen kann. Dabei werden die Zeugen der Anklage einem Kreuzverhör vor einer Geschworenenjury unterzogen. Kommen Zweifel an den Anklagepunkten zutage, kann die Klage abgewiesen werden. Das ist besonders bei Anklagen, die ohne eindeutige Beweise geführt werden, von großer Bedeutung.
Eine erfolgreiche Anwältin
Tessa Ensler hat viele Anklagen aufgrund dieser Praxis abschmettern können. Sie liebt ihre Auftritte vor Gericht. Dabei ist ihr zunächst gleich, ob die von ihr vertretenen Mandanten schuldig oder unschuldig sind. Sie betrachtet sich als Dienstleister, als jemand, der die Geschichten der Verdächtigen möglichst positiv darstellt. Das System sorgt dann schon selbst für Gerechtigkeit. So Tessas Glaube.
Dieser Glaube wird – und das ist leider ziemlich vorhersehbar – empfindlich erschüttert, als sich die Verhältnisse umdrehen und Tessa selbst Zeugin der Anklage in ihrem ganz eigenen Fall wird. Ein Kollege aus der Kanzlei, mit dem Tessa bereits zweimal einvernehmlichen Sex hatte, vergewaltigt sie nach reichlich Alkoholkonsum in ihrer eigenen Wohnung, wo sie zuvor bereits die Nacht verbracht haben. Eine schwierige Situation, denn wie so oft, ist es wieder an der Frau nachzuweisen, dass sie deutlich „Nein“ gesagt, sich sogar gewehrt hat. Der Kollege behauptet natürlich Einvernehmlichkeit.
Es gibt immer noch viele, auch europäische Staaten, die noch nicht einmal diesen „Nein heißt Nein“-Grundsatz aufgenommen haben, nur relativ wenige sind einen Schritt weiter und bei „Nur Ja heißt Ja“ angekommen. Auch Tessa hat als Barrister bisher von sexueller Gewalt betroffene Frauen im Zeugenstand so gut es geht auseinandergenommen. Nun sitzt sie selbst dort, macht ähnliche Fehler wie die meisten, wird nervös, agiert irrational, verunsichert.
Wenig Ambivalenz
Ich musste bei der Lektüre oft an Bettina Wilperts 2018 mit dem Aspekte- und mit dem Bloggerpreis Das Debüt ausgezeichneten Roman „nichts was uns passiert“ denken, in dem ein ähnlicher Fall, allerdings ohne den Gerichts-Background behandelt wird. Um es gleich zu sagen, ich finde ihn sehr viel eindrücklicher. Bettina Wilpert gelingt es, die Lesenden selbst zu verunsichern, Ambivalenzen zuzulassen. Auch wenn natürlich das ganze Buch eine Anklage sexueller Gewalt ist.
Suzie Miller hingegen präsentiert in Prima Facie nur eine Sicht, die von Tessa Ensler. Die Protagonistin erscheint dabei als nahezu tadellos. Durch Fleiß und Intelligenz aus dem Arbeitermilieu und einer nicht intakten Familie zum Jura-Studium nach Cambridge gelangt und sich als Stipendiatin gegen all die privilegierten Mitstudent:innen behauptend steht nun ihre Karriere in einer Londoner Erfolgskanzlei auf dem Spiel. Die als Reinigungskraft arbeitende Mutter, der straffällig gewordene Bruder, die schwangere Schwägerin – dieser Hintergrund verschafft ihr Extra-Sympathiepunkte. Das war mir alles ein Tick zu glatt und vorhersehbar. Außerdem wirkt Tessas dilettantisches Verhalten vor Gericht bei aller emotionalen Anspannung doch ein wenig unglaubwürdig. Erzähltechnisch traut Suzie Miller ihren Leser:innen auch nicht viel zu. Die Kapitel sind sorgfältig mit „Vorher“, „Damals“, „Jetzt“ etc. verortet, damit keinerlei Irritation aufkommt.
Trotzdem: Lesenswert!
Trotzdem: Das Buch ist lesens- und empfehlenswert. Es liest sich gut, schnörkellos und wirft wichtige Fragen auf. Das immer noch patriarchal ausgerichtete Rechtssystem, das Opfern sexuellen Missbrauchs die Beweislast aufbürdet, sie zur Aussage zwingt, immer noch zunächst von Einvernehmlichkeit ausgeht, die Schuld bevorzugt bei den Frauen sucht; die lange Zeit, die zwischen Tat und Prozess vergeht (bei Tessa 782 Tage), die Neigung der Gesellschaft, immer noch von einem „Kavaliersdelikt“ auszugehen (zumindest wenn der Täter zum Bekanntenkreis gehört) und die geringe Verurteilungsquote (von 100 Vergewaltigungen werden letztendlich nur ca. 1% der Täter verurteilt) – das sind Dinge, die nicht oft genug thematisiert werden können. Das Theaterstück ist in seiner Wirkung und Wucht wohl stärker als die Romanfassung, die mehr Hintergrund liefert und Tessa nahbarer macht. Eine Verfilmung ist geplant.
Beitragsbild: Barrister Hair by Jessica Clark (CC BY-NC-SA 2.0 Deed) via Flickr
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Suzie Miller – Prima facie
Aus dem Englischen von Katharina Martl
352 Seiten. Gebunden, € 25,00