Die Transgenerationale Weitergabe von Traumata, Erfahrungen, Verhaltensweisen ist ein weites und in der neueren Literatur eifrig beackertes Feld. Gerade die Erfahrungen von Frauen in und um den Zweiten Weltkrieg sind häufiges Thema. Dass man ihm immer noch neue Aspekte abgewinnen und herausragende Prosa daraus erschaffen kann, beweist die Theater- und Hörspielautorin Simone Kucher in ihrem Debütroman Die lichten Sommer.
Drei Frauengenerationen stehen im Mittelpunkt, die Erzählerin ist quasi die vierte, der Autorin altersmäßig ähnelnde. Inspiriert sind sie von Simone Kuchers eigener Familie, die über die Großmutter aus Tschechien stammt. Nach dem Krieg muss die deutschsprachige Familie den kleinen Ort Zeletice, südöstlich von Brünn verlassen und gehört fortan zu den ungeliebten „Vertriebenen“ in Deutschland. Hier müssen sie in eilig errichteten Barackensiedlungen leben und hier kommt auch Liz zur Welt. Schon als Kind spürte sie die Ablehnung der Einwohner, die sie immer ihr „Anderssein“ spüren lassen. Aber auch als die Eltern zu etwas Wohlstand kommen und eine Gastwirtschaft eröffnen, fühlt sich die junge Frau eingesperrt. Sie hilft in der Kneipe, der Vater verbietet ihr den ersehnten Ausbildungsvertrag, den sie in der Batteriefabrik, in der sie für kleines Geld zusätzlich arbeitet, erhalten könnte. Warum verliert sich die Mutter Nevenka immer mehr in ihren Erinnerungen und tritt nicht für sie ein?
Nevenka und Olina
Nevenka wuchs während der deutschen Besatzung und des Zweiten Weltkriegs in Zeletice auf. Ihre Mutter Olina ist die dritte Frauengeneration, von der Simone Kucher in Die lichten Sommer erzählt. Immer wieder wandern Nevenkas Gedanken zurück zu ihrer Kindheitsfreundschaft mit Zena. Diese kommt in den 1940er Jahren aus Prag nach Zeletice. Zenas Mutter, die Kinderbuchautorin Anezka, will näher an ihrem in der Festung Spielberg in Brünn inhaftierten Mann Pavel leben, der wegen eines verweigerten nationalsozialistischen Gruß von den Deutschen verhaftet wurde. Die Freundschaft der beiden Mädchen wird sehr zart und poetisch geschildert, endet aber sehr dramatisch. Nur noch ein Foto des Mädchens mit dem kinnkurzen Haar ist geblieben.
Nevenka spricht nicht oder sehr wenig über die Vergangenheit. Sie zieht sich in sich zurück, erduldet die häufige Trunkenheit des Vaters. Liz aber möchte mehr vom Leben. Da kommt der attraktive Robert gerade recht. Gegen den Willen des Vaters heiraten sie und Liz ist wie ihre Mutter und Großmutter gerade mal 18 Jahre alt, als sie zum ersten Mal Mutter wird. Dann kommen das zweite und das dritte Kind und sie merkt, dass sie die Bevormundung des Vaters nur für die Bevormundung durch den Ehemann eingetauscht hat.
Still, poetisch, facettenreich und unprätentiös erzählt Simone Kucher in ihrem beeindruckenden Debütroman Die lichten Sommer von Freundschaft, lichten Kindheitssommern und dunklen Zeiten, vom Verlust der Heimat und dem Schweigen der Familien, von eingeengten Frauenleben, Generationenkonflikten und Resilienz. Das ist oft bedrückend und traurig, manchmal aber auch so zart und licht wie besagte Sommer. Ein gelungenes Debüt!
Von einem zum anderen Tag
Simone Kucher hat über das gleiche Thema auch das Hörspiel Von einem zum anderen Tag geschaffen, das man in der WDR-Mediathek anhören kann.
Dort sind sich Mutter und Tochter nicht einig über den Umgang mit der Vergangenheit:
„Trotzdem ist es gut, dass wir sprechen. Man muss es einfach.“ „Das machen vielleicht die Leute deiner Generation zur Genüge. Man muss das nicht. Man muss nicht über alles sprechen.“ „Man muss Dinge benennen und darüber sprechen, was wirklich war. Es einordnen und daraus lernen.“ „Was war, war. Man muss damit leben.“ „Aber wie?“
https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/hoerspiel-am-sonntag/krieg-vertreibung-tschechien-100.html
Beitragsbild: Daniel Bohrer, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons
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Simone Kucher – Die lichten Sommer
Kjona Februar 2024, 240 Seiten, Gebunden, € 23,00