Selten war ich so wütend auf eine Protagonistin wie auf die Mutter im neuen Roman von Alina Herbing, Tiere, vor denen man Angst haben muss. Denn natürlich ist es eher die Mutter, vor denen sich die beiden Töchter Madeleine und Ronja fürchten müssen. Nicht weil diese sie direkt misshandeln würde, nicht weil sie ihre Kinder nicht liebt, sondern weil sie völlig schräg ist, in ihrer ganz eigenen Welt lebt, maximal egozentrisch ist und ihre Kinder deshalb sträflich vernachlässigt. Vom Vater gar nicht zu reden.
Dabei hat alles doch so gut begonnen. Die Eltern, beide engagiert, auch politisch bei den Grünen, und eigentlich auch gut situiert, ziehen nach der Wende mit ihren Kindern Madeleine, Ronja, Lasse und Helge von Lübeck kurz hinter die nun nicht mehr bestehende Grenze nach Mecklenburg auf einen alten Hof. Das Haus ist baufällig, der Garten verwildert, es gibt keine Heizung und auch nur ein Plumpsklo, aber es war schon lange ein Traum der Mutter, aufs Land zu ziehen, bewusster und naturnaher zu leben. Außerdem war die DDR für sie sowieso das „bessere Deutschland“. Den kapitalistischen Lebensstil lehnt vor allem die Mutter ab. So wird der Jeep gegen einen alten, hellblauen Trabi ausgetauscht und zum Rasenmähen werden Ziegen angeschafft.
Allerlei Getier
Zu den Ziegen gesellen sich bald allerlei andere Tiere, u.a. die Wildschweine Hänsel und Gretel, mehr oder weniger bissige Hunde und jede Menge Katzen. Statt ihrem alten Beruf als Krankenschwester widmet sich die Mutter nun einer Tierauffangstation, die sie ehrenamtlich betreut und die ihre ganze Aufmerksamkeit einfordert. Für Heim und Kinder bleibt da kaum Platz und der Vater setzt sich auch alsbald ab, wieder Richtung Lübeck. Eingespannt werden dafür die Kinder, vor allem die beiden Mädchen, denn auch die Brüder verlassen den Hof sobald sie können. Der jüngere Lasse zieht zum Vater und seiner neuen Partnerin.
Madeleine und Ronja gehen noch zur Schule, müssen sich aber auch um die wachsende Zahl Tiere kümmern, Tiere, vor denen man Angst haben muss. Denn diese haben auf Mutters Hof nicht nur Narrenfreiheit, sondern sind zum Teil so bedrohlich, dass die Mädchen sich nicht trauen, ihre Zimmer zu verlassen, sei es wegen der knurrenden Hunde oder der herumhuschenden Ratten. Armut zieht bei ihnen ein, denn die Mutter geht keiner Lohnarbeit nach, der Vater kümmert sich kaum. Das Haus verwahrlost, die Mädchen haben oft Hunger – trockene Brötchen scheinen das Standardgericht – und das prägende Gefühl, das auch die Leserin im Verlauf des Romans selten verlässt ist Kälte. Eisige Kälte, weil die Mutter wieder mal kein Holz und keine Kohlen gekauft hat. Dafür aber palettenweise Katzenfutter.
Starke Sinneseindrücke
Eine große Stärke des Romans ist, diese Sinneseindrücke sehr bildstark an die Lesenden weiterzugeben. Es ist kalt, klamm, das Haus modert vor sich hin, durch das marode Dach und Risse im Mauerwerk zieht der Wind, Mäuse rascheln, die Urinpfützen diverse Tiere müffeln, der Rauch von schlecht ziehenden Öfen beißt in den Augen. Es ist grauenhaft. Und darin zwei heranwachsende Mädchen – die Ich-Erzählerin Madeleine ist 16 -, die unglaublich solidarisch, wenn auch nicht unkritisch mit ihrer Mutter und vor allem untereinander sind. Wie einsam müssen sie sein und man möchte die Mutter gern kräftig durchschütteln. Deren Motto ist „Die Tiere gehen immer vor!“
Was geht in einer Mutter vor, die ihre Kinder völlig vernachlässigt, um ihr Leben ganz den „armen, unschuldigen Tieren“ zu widmen (rauchen und perfektes Makeup gehen aber noch)? Was in einem Vater, der das ganze Elend sieht, aber nichts unternimmt?
Alina Herbing hat diese Anti-Idylle vielleicht (hoffentlich) ein wenig überzeichnet. Es gab einen autobiografischen Ansatz, denn auch ihre Familie zog nach dem Mauerfall von Lübeck nach Mecklenburg. Ich hoffe sehr, dass das die einzige reale Begebenheit des Buchs ist. Denn diese Erzählung ist völlig fern von jeder naturnahen, idyllischen Kindheit. Und endet leicht surreal mit das Haus eroberndem Efeu, einem zusammengebrochenen Dach und einem inmitten des Chaos thronenden Schwan.
Beitragsbild: conticum CC BY-SA 2.0 Deed via Flickr
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Alina Herbing – Tiere vor denen man Angst haben muss
Arche Verlag Februar 2024, 256 Seiten, gebunden, 23 €