Der Titel Kantika – in Ladino, der Sprache der sephardischen Juden, das Lied bezeichnend – verrät schon einiges über den neuen Roman der US-amerikanischen Schriftstellerin Elizabeth Graver, deren Roman Der Sommer der Porters (mare, 2016) mich bereits sehr begeistern konnte. Die 1964 in Los Angeles geborene Autorin erzählt darin die nur leicht fiktionalisierte Geschichte ihrer eigenen Familie mütterlicherseits, und davon besonders ihrer 1902 geborenen Großmutter Rebecca Cohen Baruch Levy, die ihre Wurzeln im osmanischen Reich hat. Dorthin flohen Ende des 15. Jahrhundert in Folge der Reconquista viele von der iberischen Halbinsel vertriebene Juden und wurden sesshaft.
Im kosmopolitischen, mehrsprachigen und multireligiösen Konstantinopel kam die Familie zu einigem Wohlstand. Der Ur-Großvater Alberto, ein Textilfabrikant, besaß aber relativ wenig Geschäftstüchtigkeit, so dass es um seine Fabrik bereits vor dem Ersten Weltkrieg nicht zum Besten stand. Zwar wurden in der modernen Familie auch die Töchter noch auf exklusive, teure katholische Privatschulen geschickt, konnte man sich ein Sommerhaus in Büyükdere und Personal leisten, aber lieber als den Geschäften ging Alberto dem Glücksspiel, Alkoholkonsum und zahlreichen Affären nach. Oder er widmete sich seinem üppigen, sehr geliebten Garten.
Sepharisches Leben in der Türkei
Nach den Einschränkungen durch den Ersten Weltkrieg und dem Untergang des von Elizabeth Graver in Kantika vielleicht etwas idealisierten Osmanischen Reichs verschärfen sich unter den nationalistischen Jungtürken die Lebensbedingungen gerade auch der jüdischen Bevölkerung. Der Vater wird enteignet und entschließt sich 1925, nach Spanien, sozusagen die „sehr alte Heimat“, auszuwandern. Das ändert die Lage für die Familie fundamental. Der Vater findet lediglich eine Stelle als eine Art Hausmeister an einer Synagoge in Barcelona. Auch Ehefrau Sultana und Tochter Rebecca müssen fortan zum Lebensunterhalt beitragen. Rebecca gelingt es durch ihr Talent als Schneiderin bald einen gutgehenden Modeladen aufzubauen, muss aber vor der teils sehr antisemitischen Bevölkerung Barcelonas ihre jüdische Herkunft verbergen. Der Vater hingegen verarbeitet den gesellschaftlichen Abstieg weniger gut und fasst nie so richtig Fuß in der neuen Heimat.
1926 bereits heiratet Rebecca einen anderen exilierten sephardischen Juden, Luis. Ein wenig durchdachter Schritt, weiß sie von ihrem Mann doch recht wenig, zum Beispiel auch nichts von den psychischen und physischen Folgeschäden, die dieser von der Teilnahme am Ersten Weltkrieg davongetragen hat. Die beiden bekommen zwei Söhne, Berto und David. Luis ist oft in undurchsichtigen Geschäften unterwegs und irgendwann ganz verschollen. Rebecca macht sich daraufhin mit den Söhnen auf die Reise zu seinem letzten Aufenthaltsort, dem Herkunftsort von Luis, Adrianopel in der Osttürkei. Dort teilt ihm seine Familie allerdings mit, dass Luis vor Kurzem verstorben ist.
Der Schritt in die neue Welt
Rebecca hält fortan nichts mehr in Barcelona und sie folgt dem Drängen ihrer älteren Schwester Corinne, die bereits vor Längerem mit ihrem Ehemann zunächst nach Kuba und dann in die USA ausgewandert ist, ihr zu folgen. 1934 geht sie eine von der Schwester arrangierte Ehe mit dem in New York lebenden Sam ein. Sam ist der Witwer ihrer Kindheitsfreundin Lika, die bereits in den 1920ern mit ihrer Familie in die USA ausgewandert war und bei der Geburt ihrer Tochter Luna starb. Luna, die nun sechs Jahre alt ist, leidet an Zerebralparese. Gegen den Widerstand der überbehütenden Schwiegermutter kümmert sich Rebecca fortan rührend um das bis dahin stark eingeschränkte Kind. Ihre beiden Söhne kann sie erst Jahre später in die USA nachholen. Mit Sam bekommt sie noch drei weitere Kinder, u.a. Gravers Mutter Suzanne.
Elizabeth Graver spannt in Kantika den großen epischen Bogen über das gesamte 20. Jahrhundert. Sie schöpft aus Tonbandaufzeichnungen ihrer Großmutter Rebecca aus dem Jahr 1985, aus Gesprächen und ausgiebigen Recherchen. Lyrisch, sanft und ruhig erzählt sie von den Generationen ihrer Familie, von der Resilienz der Frauen, den zeithistorischen Veränderungen, vom Fortgehen und Ankommen. Sie schafft dabei starke, durchaus ambivalente Charaktere, schildert sehr sinnlich und musikalisch, ganz gemäß dem Titel Kantika, einen ganzen Kosmos sephardischen Lebens, von dem doch vergleichsweise selten erzählt wird. Ein sehr empfehlenswertes Buch.
Beitragsbild: Jüdisches Viertel in Barcelona via pxhere
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Elizabeth Graver – Kantika
Aus dem amerikanischen Englisch von Juliane Zaubitzer
Mare Februar 2024, gebunden, 368 Seiten, € 25,00