Isabelle Autissier – Aqua alta – das jährliche Winterhochwasser begleitet Venedig schon seit seiner Gründung in der Lagune. Es kommt durch bestimmte Winde, durch die Gezeiten, niedrigen Luftdruck und weniger als man denkt durch Regen zustande. Seit 1872 wurden über 300 davon erfasst, in jüngster Zeit hat sich ihre Frequenz bedeutend erhöht. Gab es zwischen 1900 und 1910 lediglich zehn solcher Ereignisse, waren es zwischen 2001 und 2010 bereits fünfundsechzig, Tendenz steigend.
Nicht nur steigen durch den Klimawandel die Meeresspiegel an, sondern fahrlässiges Fehlverhalten, wie die intensive Grundwasserentnahme für die Industrie in den 1960er-Jahren, die Vertiefung der Fahrrinnen für immer größere Schiffe und die bis 2021 erlaubte Durchfahrt von riesigen Kreuzfahrtschiffen, die durch ihren Wellenschlag die Strömungsverhältnisse änderten, haben dazu geführt, dass nicht nur die Lagune als lebendes System mit einem ganz besonderen Gleichgewicht zwischen Salz- und Süßwasser, einer bestimmten Sedimentstruktur und spezifischen Strömungsverhältnissen, sondern auch die zum Teil auf Millionen unterirdischer Eichenpfähle errichtete Stadt mit ihren prächtigen Palazzi, Kirchen und dem Dogenpalast extrem gefährdet ist.
Venedig ist extrem gefährdet
Holz wird, soweit es dauernd unter Wasser bleibt, eisenhart. Aber gerade die an- und abschwellenden Wellen der Riesenschiffe haben dazu geführt, dass die Pfähle Sauerstoff ausgesetzt wurden. Seit Juli 2021 ist die Kreuzfahrt durch die Lagune zum Glück Geschichte. Hoffentlich wurde diese Entscheidung nicht zu spät getroffen.
Steigende Wasserspiegel führen dazu, dass die Wasserbarriere der Häusersockel aus istrischem Kalkstein überspült wird. Die aus Stabilitätsgründen meist mit leichten, porösen Materialien errichteten Aufbauten können sich daraufhin mit Wasser vollsaugen und werden instabil.
Beim prognostizierten Untergang der Stadt scheint es sich weniger um ein ob als um ein wann zu handeln. Fachleute haben bereits das Jahr 2100 gesetzt. Ein erschreckendes Szenario.
Untergangsszenario
Isabelle Autissier hat dieses Horrorszenario in den Mittelpunkt ihres neuen Romans Aqua alta gestellt. In nüchternem, fast ein wenig reportagehaftem Ton beginnt sie mit dem Untergang und richtet den Fokus auf einen der nur wenigen Überlebenden der Katastrophe, den Stadtrat Guido Malegatti. Dieser betrauert den Tod seiner Frau Maria Alba. Die achtzehnjährige Tochter Lea gilt als vermisst. In der Folge wird die Familie vor dem Untergang vorgestellt, inklusive ihrer diversen Konflikte.
Das geschieht leider recht schablonenhaft. Guido ist der macht- und geldgierige Politiker, aufgestiegen aus einfachsten, bäuerlichen Verhältnissen und mit Baugeschäften zu Reichtum gekommen, der die drohende Katastrophe stets leugnet. Maria Alba ist die träge, leicht arrogante Frau aus sehr altem, aber leider verarmtem Adel, die ihre Stadt aus Geschichtsbewusstsein wegen ihrer Noblesse liebt. Lea ist die verwöhnte, rebellische Jugendliche, die sich auf die Seite von Umweltaktivisten schlägt und eine Affäre mit ihrem viel älteren Professor beginnt. Unsympathisch und eindimensional sind sie eigentlich alle drei.
Wichtige Fragen, weniger überzeugende Umsetzung
Trotzdem habe ich Aqua alta mit Interesse gelesen, vielleicht aber nur, weil ich mich gerade in Venedig befand und das Buch wichtige Dinge anspricht. Leider ergeht es ihm wie vielen anderen, die aktuelle Themen behandeln: es ist bereits ein wenig überholt. 2022 erschienen, nahm zwar die Pandemie schon einen wichtigen Platz darin ein, aber das Verbot der Kreuzfahrtschiffe, das 2021 überraschend schnell erlassen wurde, nachdem man jahrelang ergebnislos darüber gestritten hat, war noch nicht verhängt. Und das große MO.S.E-Projekt – riesige, umlegbare Fluttore, die die Lagune in Zukunft vor Fluten schützen sollen – noch nicht in Betrieb genommen. Seit 2021 hat es die Stadt durchaus erfolgreich vor Aqua alta geschützt.
Und auch wenn das zur Rettung Venedigs allein vermutlich nicht ausreicht und immer noch darüber diskutiert wird, ob die Baukosten von 6 Milliarden Euro und die hohen Betriebskosten gerechtfertigt sind, durch die steigenden Meeresspiegel zu niedrig gebaut wurde und ob durch den Verschluss der Tore nicht der wichtige Austausch zwischen Lagune und Meer nachhaltig gestört wird – so schlecht wie im Roman hat sich das Projekt bisher nicht gezeigt.
Aqua alta stellt wichtige Fragen und ist also durchaus eine Leseempfehlung für alle, die sich für Venedig und/oder Umweltbelange interessieren. Literarisch hat es eher wenig zu bieten.
Beitragsbild by BORGHY52 (CC BY-NC-ND 2.0 Deed) via Flickr
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Isabelle Autissier – Aqua alta
Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig
Mare Februar 2024, gebunden, 208 Seiten, € 23,00