Die belarussische Autorin Volha Hapeyeva war 2019/2020 Stadtschreiberin in Graz und kehrte von dort nicht in ihre Heimat zurück. In ihrem poetischen Roman Samota. Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber – Samota bedeutet auf deutsch „Einsamkeit“ – nähert sie sich diesem Gefühl ebenso wie der menschlichen Fähigkeit Empathie zu empfinden, dem Begriff der Zeit und der Erinnerung. Sie bewegt sich dabei auf verschiedenen Zeitebenen und folgt drei Hauptfiguren.
Da ist einmal die Vulkanologin Maja, die als Ich-Erzählerin auftritt und von einem Forschungsaufenthalt in Japan erzählt. Als Kind lebte sie bereits mit ihren Eltern dort, als 1970 der Vulkan Akita-Komagatake ausbrach und in der Folge ihr geliebter Hund Kassawur verschwand. Eine Erinnerung, die sie mit zu ihrem Aufenthalt Jahrzehnte später mitnimmt. Selbst sehr sensibel hat sie sich in die Wissenschaft und Forschung als „kalte“ Materie gestürzt, wohl als eine Art Selbstschutz. Sie wirkt verstört, unsicher, isoliert.
„Wieder diese endlosen inneren Monologe. Ich frage mich, was wohl in der Welt geschieht, während ich mit ihnen beschäftigt bin?“
Im Hotel begegnet sie einer Frau, die so ganz anders als sie tickt, der Tierpsychotherapeutin und Verfasserin von Glückskekssprüchen Helga-Maria. Diese ist umtriebig und zupackend, erscheint aber im Verlauf des Romans immer unwirklicher. Es kommt der Verdacht auf, dass diese Helga-Maria nicht real, sondern nur eine weitere Ebene von Maja sein könnte.
Zeitebenen
Diese Irrealität wird gefördert durch den dritten Protagonisten. Dieser hochempfindsame, schwärmerische Sebastian entstammt einer anderen Zeitebene, die man durch die etwas altertümelnde Sprache und diverse Requisiten vielleicht auf die vorvergangene Jahrhundertwende datieren könnte. Sebastian wohnt zur Miete bei Herrn Zikade, der wiederum einen weiteren Mieter beherbergt, den düsteren, groben Mészáros. Dieser geht dunklen Geschäften nach und ist Jäger. Eines Tages entdeckt Sebastian in dessen Zimmer ein gefangenes und gequältes Wolfsjunges. Er beschließt es zu retten.
Verknüpft ist dieser Sebastian mit dem anderen Handlungsstrang dadurch, dass er schwärmerische Liebesbrief an Helga-Maria schreibt. Einer Figur, die durch die andere Erzählebene eigentlich 100 Jahre später verortet ist.
„Du weißt, du wirst es längst schon erraten haben, dass die Zeit gar nicht existiert, sagte sie zu mir. In dem Sinn, dass keine Realität jenseits unserer Wahrnehmung existiert, so wie es ja auch keine Farbe gibt. (…) Obwohl, es gibt die sakrale und die profane Zeit, und wahrscheinlich eine mythologische Zeit, unbeweglich und allgegenwärtig. Dortin kann man gelangen, wenn man Magie praktiziert, aber es gibt noch andere Zugänge. Bücher zum Beispiel. Diese Welt existiert wie eine parallele Realität, und mit jedem Buch vervielfältigt sich die Anzahl der Realitäten.“
Fantastisch, geheimnisvoll und sehr locker verwebt – es dauert eine Weile, bis man sich grob in der Geschichte, die alle Eindeutigkeiten meidet, zurechtfindet. So etwas kann Spaß machen, hier fiel es mir recht schwer, mich zu orientieren und in das Buch hineinzufinden.
Es geht um Empathie, um Einsamkeit und Alleinsein und um das Verhältnis von Mensch und Tier.
„Die Menschen stört immer irgendetwas. Nur wenige Menschen wissen, wie man sich an dem freut, was einen umgibt, was man bereits hat. Wobei die größere Freude nicht davon kommt, was du hast, sondern vom Sein.“
„Es scheint, wir werden schon lange keiner einzigen Überzeugung des Humanismus mehr gerecht.“
Und am Ende geht es um Erinnerung.
„(…) ich dachte darüber nach, dass von den gelebten Jahren nur einige einzelne Tage oder Ereignisse in Erinnerung bleiben, wobei letztere nicht einmal irgendwie außergewöhnlich sein müssen. (…) An die Stellen dieser Tage und Ereignisse, die hervorgehoben werden, fügt man Lesezeichen ein, wie in einem Buch, und kann dann, wenn es notwendig ist, sein Gedächtnis auf der entsprechenden Stelle aufschlagen und sich in die Lektüre vertiefen. Dieses Aufblättern nennen die Menschen Erinnerung.“
Es gibt viele schöne, poetische Passagen und Bilder im Buch. Wie etwas diese:
„Nicht Alleinsein, sondern allein Sein. Nicht einsam sein, sondern eins sein. Allsein.“
Insgesamt wurde mir allerdings den Zugang etwas zu schwer gemacht und das Ganze zu locker verwebt. Ein Buch, das man sich definitiv „erarbeiten“ muss.
Beitragsbild by The Wasp Factory (CC BY-NC-SA 2.0 Deed) via Flickr
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Volha Hapeyeva – Samota
Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber
Aus dem Belarusischen übersetzt von Tina Wünschmann und Matthias Göritz
Droschl Literaturverlag 2024, gebunden , 192 Seiten, € 25,00