Elizabeth Strout – Am Meer

Es gibt Autor:innen, die mich mit ihren Büchern schon lange Zeit begleiten und die dadurch nicht nur zu Lieblingschriftsteller:innen, sondern auch zu einer Art literarischem Zuhause geworden sind. Richard Ford zählt gewiss dazu mit seinen Frank Bascombe-Romanen und auch Stewart O´Nan mit seiner Familie Maxwell. Und natürlich Elizabeth Strout, die nach meinem Dafürhalten immer noch ein wenig unterschätzt wird, zumindest hier in Deutschland. Sie ist weiblich, und dazu noch eine Weiße von der Ostküste fortgeschrittenen Alters (Jahrgang 1956). Außerdem pflegt sie einen lockeren, leicht zu lesenden Plauderton und erzählt überwiegend von Alltagsdingen. Aber Elizabeth Strout nimmt sich in all ihren Werken, und das ist in ihrem neuesten, Am Meer, nicht anders, die ganz großen Dinge zum Thema. Denn sie schreibt, um mal bei einem ihrer deutschen Titel zu bleiben, vom Leben natürlich.

Dabei verweilt Strout meist in kleinen Provinzstädtchen in Maine. Selten macht sie mal einen Abstecher nach New York, einen ihrer Romane lässt sie in der Heimat einer ihrer prominentesten Protagonist:innen, Lucy Barton, in deren trister Heimatstadt in Illinois spielen. Das hervorstechendste Merkmal aller Strout-Romane (es sind mittlerweile neun, auf Englisch liegt bereits der zehnte vor) ist die Liebe, die den Figuren von der Autorin ganz offensichtlich entgegengebracht wird. Ohne sie zu schonen oder zu idealisieren spürt man diese große Zuneigung, diese tiefe Empathie, und wie durch Zauberhand bringt die Leserin diese sehr bald selbst auf.

Lucy Barton

Dabei sind diese Protagonist:innen alle keine ganz einfachen Charaktere (aber wer ist das schon). Sie haben ihre Macken, Ecken und Kanten und frönen meistens einem kräftigen Skeptizismus der Welt und ihren Mitmenschen gegenüber. Die kratzbürstige Olive Kitteridge aus Mit Blick aufs Meer ist da ein Beispiel. Immer wieder kommt Elizabeth Strout in lockerer Abfolge zurück auf diese Figuren. Manchmal sind sie nur flüchtige Passanten, manchmal spricht man nur über sie, manchmal nehmen sie die Hauptrolle ein. So wie Lucy Barton, die Elizabeth Strout in Am Meer nun schon zum dritten Mal ins Zentrum eines Romans stellt.

Dabei ist der letzte Lucy Barton-Roman, Oh, William, erst 2021 erschienen. Aber kaum war dieser abgeschlossen, begann die Coronapandemie und die Autorin war noch so nah an ihren Figuren dran, dass sie sie offensichtlich da nicht alleinlassen konnte. Und außerdem bot sich im Lockdown viel Zeit zum Schreiben.

Wir stehen also zu Beginn des Romans am Anfang der Pandemie. Es ist die erste Märzwoche 2020 und Lucys Ex-Mann William, der Wissenschaftler, Parasitologe ist, ahnt, was da auf die Welt zukommt. Er überredet Lucy, New York zu verlassen und mit ihm in ein Haus an der Küste von Maine zu ziehen. Lucys alte Bekannte Elsie Waters war wie Williams bester Freund Jerry bereits am Virus verstorben und sein Bekannter Bob Burgess bietet ihm das Haus im kleinen Städtchen Crosby (wir kennen es als Heimatort von Olive Kitteridge) günstig an. Wir kennen auch Bob Burgess aus einem früheren Strout-Roman (The Burgess Boys, dt. Das Leben natürlich), vermutlich mein allerliebster von ihr.

Lockdown

Wir begleiten nun Lucy und William in ihrem Lockdown, treffen hin und wieder Bob Burgess, mit Masken und reichlich Abstand natürlich, verfolgen die Sorge um die gemeinsamen Töchter (Trennung, Fehlgeburt und Ehekrise inklusive), besuchen Williams erst im letzten Roman gefundene Halbschwester Lois Bubar und Lucys in prekären Verhältnissen lebende Geschwister Pete und Vicky und bekommen nebenbei die Ereignisse dieses Jahres wie ein düsteres Hintergrundrauschen mit: der Mord an George Floyd im Mai, die Massenproteste, die Wahl Joe Bidens im November 2020 und der Sturm aufs Kapitol im Januar 2021. Nicht nur die Pandemie, sondern auch der zunehmende Riss in der amerikanischen Gesellschaft beunruhigt.

Die Isolation belastet Lucy, deren Sicht der Dinge wir durch die gewählte Ich-Perspektive erfahren. Panikattacken und die Schwierigkeit, wieder mit dem Schreiben zu beginnen. (Lucy ist Schriftstellerin) Aber Lucy, die aus sehr prekären Verhältnissen stammt, weiß auch ihre sehr privilegierte Lage zu erkennen, versucht, selbst Trump-Anhänger wie die Reinigungskraft des örtlichen Altenheims Charlene Bibber, die ihren Job verliert, weil sie Impfgegnerin ist, irgendwie zu verstehen. Deren Wut angesichts der Verachtung, die ihnen oft entgegengebracht wird. Es gelingt ihr nicht wirklich.

Lucy erzählt uns die Geschichte ihrer Zeit im Haus Am Meer wie einer Freundin, im Plauderton, warmherzig und manchmal sehr emotional. Emotionaler als man das von vorhergehenden Romanen Strouts kennt. Das ist wohl der Krisensituation geschuldet. Lucy bleibt aber immer selbstreflektiert, skeptisch, ironisch. Ich bin ihr wieder sehr, sehr gerne gefolgt und verlasse meine literarische Wahlfamilie nur ungern. Schön, dass es schon bald einen neuen Roman von Elizabeth Strout geben wird, in dem sie noch mehr ihrer Figuren aufeinandertreffen lassen wird.

 


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Elizabeth Strout - Am Meer.

Elizabeth Strout – Am Meer
Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth
Luchterhand Februar 2024, Hardcover mit Schutzumschlag, 288 Seiten, € 24,00

 

 

 

 

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