Demon Copperhead? Da klingelt natürlich bei jedem Literaturliebhaber etwas. Und Barbara Kingsolver, die für ihren 860 Seiten starken Roman 2023 sowohl den Pulitzer Belletristik als auch den Women`s Prize for Fiction zugesprochen bekam, macht auch gar kein Geheimnis daraus, dass sie den berühmten David Copperfield von Charles Dickens als Folie für Demon Copperhead verwendet hat. Die sozial engagierte, realistisch erzählte Geschichte des Waisenjungen David aus dem Jahr 1850 und dem viktorianischen England in die 1990er und 2000er Jahre und in die abgehängte, als „Hillbilly-Provinz“ verachtete US-amerikanische Gebirgsregion der Appalachen zu transferieren, ist der 1955 geborenen und trotz zahlreicher Veröffentlichungen in Deutschland bisher nahezu unbekannten Kingsolver hervorragend gelungen.
„Charles Dickens, ein uralter Typ, längst tot und außerdem Ausländer, aber Herrgott, er hat es echt gut beschrieben, wie Kinder und Waisen beschissen und ausgebeutet werden und es keinen einen Furz interessiert. Man hätte meinen können, er wäre von hier.“
Ein moderner David Copperfield
Damon Fields nimmt darin die Rolle des Jungen Copperfield ein. Schon früh erhält er den Spitznamen Demon, der selbsterklärend ist, und wegen seiner roten Haare Copperhead nach der gleichnamigen Giftschlange (Nordamerikanischer Kupferkopf). An Schicksalsschlägen, die ihm widerfahren, an Ausbeutung, Hunger und Armut, die er erleiden muss, an Resilienz, die er dennoch aufweist, steht er seinem Vorbild aus dem 19. Jahrhundert in nichts nach.
„Wir haben hier Stoff genug, um mehr als nur ein einziges junges Leben an die Wund zu fahren“
Und tatsächlich orientiert sich Barbara Kingsolver auch sehr genau am berühmten Bildungsroman von Dickens. Das geht soweit, dass selbst die Namen der übrigen Protagonisten deutliche Anspielungen sind. Aus Uriah Heep wird U-Haul, aus Wickfield Winfield, aus Dora Dori usw. Auch das Schicksal von Demon folgt den vorgezeichneten Linien. Was tatsächlich ein wenig die Spannung rauben könnte, erweist sich aber als wenig problematisch. Man folgt dem Schicksal von Demon dennoch atemlos.
Irgendwo in der Provinz
Es sind die 1990er Jahre in einem gottverlassenen Kaff im Lee County/Virginia. Demon lebt mit seiner Mutter in einem Trailer auf dem Grundstück der Familie Peggot. Die Gegend ist geprägt von Armut, Arbeitslosigkeit, Tabakfeldern und Bergwerken. Der Rest der USA schaut herab auf diese Gegend, auf die „Hillbillys“, die Hinterwäldler. Es ist der Teil Amerikas, aus dem auch Barbara Kingsolver stammt.
„Er sagte, sie hätten aus uns so was wie Tiere gemacht, damit sie kein schlechtes Gewissen zu haben brauchten, als sie uns alles genommen und uns dann hängen gelassen hatten.“
Der zwar glasklare, schonungslose, aber immer auch verständnisvolle Blick stammt sicher ein wenig daher, dass die Autorin diesem vernachlässigten Stück Land ein wenig Gerechtigkeit verschaffen will. Das Leben dort in den 1990ern ist für die meisten hart. Alkohol und Drogen sind ein großes Problem. Auch Demons Mutter, die nach dem Unfalltod des Vaters alleinerziehend vom kargen Gehalt einer Hilfskraft bei Walmart leben muss, hat diese Probleme. Dank der tatkräftigen Unterstützung der Familie Peggot gelingt es der kleinen Familie aber dennoch, irgendwie zurechtzukommen. Enkel Matt Peggot, von allen nur Maggot genannt, ist Demons bester Freund. Seine Mutter sitzt eine lange Haftstrafe ab. Krankenversicherung, Fürsorge – davon kann man nur träumen.
„Und wenn es Kinder sind, dann viel Glück, denn alles, was damit zu tun hat, das Leben von Kindern zu verbessern, steht ganz, ganz unten. Was Lehrer verdienen, ist größtenteils ein Witz.“
Waise
Das armselige, schwierige, aber irgendwie noch intakte Leben hat ein Ende, als Demons Mutter einen neuen Freund mitbringt. Dieser Stoner ist ein richtiger Mistkerl, hat den Jungen von Anfang an auf dem Kieker und bewirkt, dass Demon in eine Pflegefamilie kommt. Die Behörden sind ignorant und verantwortungslos, die Pflegefamilien nur aufs Geld aus und missbrauchen die Pflegekinder aufs sträflichste. Das Los von Demon ist kaum besser als das von David 150 Jahre zuvor. Ganz aussichtslos wird es, als die Mutter an einer Überdosis stirbt. Gerade einmal 29 Jahre alt, Demon ist da elf. Und macht sich selbst große Vorwürfe.
„Als hätte ich nicht gewusst, wer schuld war. Mom hatte mir versprochen, clean zu bleiben, solange ich ein so guter Sohn war, dass es sich lohnte. Das brauchte mir keiner zu verheimlichen. Ich wussste Bescheid. Ich war jetzt elf.“
Ein wenig heller wird die Geschichte, als Demon auf eigene Initiative seine Großmutter sucht und findet. Die ist zwar nicht gerade liebevoll, sorgt aber dafür, dass der Junge gut untergebracht wird. Coach Winfield ist Trainer der Football-Mannschaft und damit eine Lokalgröße. Auch bei seinem neuen Pflegesohn erkennt er Talent. Diese kurze Phase des Glücks – Erfolg beim Football bedeutet in den USA fast automatisch Anerkennung und Beliebtheit; außerdem entwickelt Demon eine tiefe Freundschaft zu Winfields Tochter Angus – wird jäh durch eine schwere Knieverletzung, die er sich beim Training zuzieht, unterbrochen.
Die Opioidkrise
Und hier beginnt das zentrale Thema, das Barbara Kingsolver in Demon Copperhead zur Sprache bringen will. Verantwortungslose Ärzte, der Willen, schnell wieder fit zu sein und weitermachen zu können – Demon wird Opfer einer der tragischsten Krisen der jüngeren US-Geschichte. Von der Pharmaindustrie aggressiv beworben, von Ärzten verantwortungslos sorglos verschrieben, von den Konsumenten unkritisch verwendet, werden seit den 1990er Jahren Rekordmengen an starken Schmerzmitteln konsumiert. Anfangs sind das vor allem verschreibungspflichtige Schmerzmedikamente wie Oxycontin (das Opioid Oycodon) – die tödliche Suchtgefahr wird vom Hersteller und den Großhändlern bewusst verheimlicht. Zigtausende Abhängige und Drogentote gehen auf ihr Konto. Neuerdings – das spielt bei Demon Copperhead noch keine Rolle – hat das Opioid Fentanyl übernommen, ein hochpotentes und sehr gefährliches Schmerzmittel, das wegen seines geringen Preises oft auch anderen Drogen unwissentlich beigemischt wird und dem man geschätzt 90.000 Drogentote pro Jahr anlastet.
Auch Demon wird Opfer der Opioidkrise. Weil er trotz Schmerzen weiter auf den Platz will, weil er Gefallen am Drogenrausch gefunden hat, weil die Entzugserscheinungen höllisch sind. Auch seine Freundin Dori, die ihren krebskranken Vater aufopferungsvoll pflegt, dadurch aber auch leicht an die Schmerzmittel herankommt, wird abhängig. Auch wenn man durch Kenntnis des Dickens-Romans die Geschichte zu kennen meint, folgt man Demons Schicksal gespannt. Seine Resilienz, sein positives Wesen, seine Selbstironie und sein Talent zum Zeichnen schaffen Hoffnung. Das Ende bleibt einigermaßen offen.
860 Seiten – das ist eine ganze Menge. Durch die engagierten Themen, die hervorragende Figurenzeichnung, den lockeren Jargon, in dem Demon seine Lebensgeschichte erzählt, den Witz und die glänzende Übersetzung durch Dirk van Gunsteren lesen sie sich erstaunlich gut, spannend und bereichernd. Ein tolles Buch und eine wunderbare Autorin, die ich bei einer Lesung in Frankfurt bereits erleben durfte.
Beitragsbild: via Ted McGrath on Flickr, CC BY-NC-SA 2.0
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Barbara Kingsolver – Demon Copperhead
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
DTV Februar 2024. gebunden, 864 Seiten, € 26,00