Bereits im Sommer 2023 erschien Wo die Geister tanzen von Joana Osman. Die 1982 in München geborene Tochter eines palästinensischen Vaters und einer deutschen Mutter verarbeitet darin die Geschichte ihrer Großeltern zu einem dichten, packenden Text. Die furchtbaren Entwicklungen, die den Nahen Osten seit den Massakern am 7. Oktober überrollt haben, waren da noch nicht absehbar. Das Buch war eine der relativ wenigen Stimmen, die uns Geschichten aus Palästina erzählen, von den Menschen, die dort lebten und die von dort flohen und nun verstreut in aller Welt leben – zum Beispiel von Joana Osmans Familie. Es ist eine der heute so wichtigen Stimmen, die nicht polarisieren, die Verständnis und Empathie sowohl für das palästinensische als auch das israelische Volk vermitteln. Osman ist Mitgründerin der Peace Factory, die sich dafür engagiert, dass sich Menschen im Nahen und Mittleren Osten auf Augenhöhe und freundschaftlich begegnen. Allen Widrigkeiten zum Trotz.
„Ich weiß nicht viel über die Vergangenheit meiner Familie, doch das wenige, was ich weiß, schreibe ich auf.“
Joana Osman begibt sich auf die Spuren ihrer Familie, nachdem sie einen Anruf ihrer Cousine Zeynep aus Istanbul erhielt. Diese hat in einer alten Keksdose Tagebücher ihres verstorbenen Vaters Mahmoud gefunden, die über dessen Kindheit und die Eltern berichten. Ein Kapitel ihrer Geschichte, die wegen des frühen Todes ihres Vaters Mohammad für sie bisher im Dunkeln lag. Man sprach nicht gern über die Vergangenheit. Es war wohl zu schmerzhaft.
Großvater Ahmeds Familie stammt aus dem türkischen Mersin. Lange ist sie aber schon in Jaffa zuhause, wo 1942 Ahmed die deutlich jüngere Sahiba kennenlernt und heiratet. Er ist Schneider, eröffnet mit seiner Frau aber ein Kino, in dem westliche Filme gezeigt werden und kommt dadurch zu einigem Wohlstand. Dem Paar geht es gut, es kommen drei Söhne zur Welt: Mahmoud, Ibrahim und Ismael. Die Jahre der britischen Besatzung Palästinas. Juden und Muslime leben zwar nicht ohne Spannungen, aber weitgehend konfliktfrei nebeneinander. Das ändert sich im Verlaufe des Krieges und nach Kriegsende, als immer mehr Juden ins Land strömen, Zionisten, Verfolgte des Nationalsozialismus, Überlebende. Für die Familie spielt Politik eigentlich keine Rolle, ihre Opfer werden sie dennoch. Osman beschreibt die Lage in ihrer lockeren, fast witzigen Art.
„Der amerikanische Kongress forderte einen Judenstaat in Palästina. Die Araber sind natürlich empört. Die Briten versuchen hilflos zu vermitteln, und scheitern. Die Juden Palästinas sind verzweifelt und zornig. Die Juden Europas sind meistens tot. Der Krieg nimmt und nimmt kein Ende.“
Ich fürchte fast, dass man in diesem Ton heute nicht mehr schreiben würde. Das würde dem Text aber viel von seinem Zauber nehmen. Ein Text, der gerade dadurch so stark wirkt, dass die tragischen Ereignisse so salopp, aber empathisch erzählt werden.
Im Krieg 1948 entschließen sich Sahiba und Achmed, zu Verwandten in den Libanon zu fliehen. Ahmed liegt zunächst verletzt im Krankenhaus, Sahiba macht sich mit den kleinen Söhnen allein auf die Flucht übers Meer, bei der das Baby Ismael beinahe ertrunken wäre. Bei der Schwester in Beirut sind sie alles andere als willkommen. Man lebt selbst bedrängt und in Armut. Ahmed sieht schließlich die Rückkehr in die Türkei, nach Mersin, wo seine Familie ursprünglich herstammt, als Lösung. Aber auch dort fasst er nicht Fuß, die Familie lebt in noch größerer Armut und im Elend. Vier weitere Söhne kommen zur Welt. Irgendwann kehrt die Familie wieder zurück nach Beirut. Für die Söhne wird dies nicht die letzte Station bleiben. Heute ist die Familie zerstreut in alle Welt.
Zwischen ihre Familiengeschichte streut Joana Osman immer wieder Passagen, in denen sie das Erzählte reflektiert, Zusammenhänge erklärt.
„Dieses Gefühl des Andersseins ist eine der herausstechendsten Eigenschaften des palästinensischen Volkes. Palästina – so sagen die Historiker – steht völlig abseits von anderen arabischen Regionen, und nicht nur deshalb, weil es nie existiert hat. Einen Staat Palästina hat es nie gegeben, und das Warten darauf ist zu einer fixen Idee geworden, wie ein Witz, der langsam einen Bart hat.“
„Dieses Rückkehrrecht ist in hohem Maße von der Frage abhängig, ob es sich bei der An-Nakbah um eine gewaltsame Vertreibung oder ein freiwilliges Verlassen handelt, und die Antwort darauf fällt immer anders aus, je nachdem, wen man fragt. Fragen Sie meine Familie, so ist die Antwort eindeutig, aber sie wird meist nicht mit Worte gegeben, sondern mit Tränen.“
„Meine Großeltern sind aus Palästina geflohen. Wir vergleichen nicht das Leid unserer Ahnen, denken nicht darüber nach, wer mehr Kummer in seinem Familienstammbaum angehäuft hat, denn wir finden, dass es ein Unding ist, Traumata gegeneinander aufzuwiegen, genauso wie es ein Unding ist, mit der Größe eines Atombombenarsenals zu prahlen.“
„Ronny ist Israeli, und durch ihn habe ich gelernt, dass es im Grunde nur zwei Arten von Menschen gibt: diejenigen, die Frieden wollen, und diejenigen, sie siegen wollen. Er teilt die Welt in vernunftbegabte Menschen und Vollidioten ein. Und vermutlich hat er recht.“
Es ist wohltuend, nach den Verhärtungen der letzten Monate eine solch ausgewogene, vielleicht ein wenig vereinfachende, es aber auf den Punkt bringende Stimme zu hören. Ich fürchte, dass es solche im Moment und vielleicht für lange Zeit nicht mehr in der Form geben wird. Joana Osman erzählt ihre Familiengeschichte in Wo die Geister tanzen sehr menschlich, sehr empathisch, aber niemals pathetisch. Ihr Ton ist salopp, manchmal gar witzig, auch wenn sie von sehr tragischen Dingvia Flickren erzählt. Dem Buch ist eine Playlist beigefügt mit 27 Titeln, von Bing Crosby bis zur libanesischen Legende Fairouz. Und auch John Lennon darf nicht fehlen. Sein „Imagine“ und „Give peace a chance“ klingen wie aus sehr ferner Zeit. Man sollte sie hören, und dabei Wo die Geister tanzen lesen.
Beitragsbild: Old Jaffa by sama093 CC BY-NC 2.0 Deed via Flickr
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Joana Osman – Wo die Geister tanzen
C.Bertelsmann August 2023, Hardcover, 224 Seiten, € 24,00