Wetter technisch alles andere als ein Wonnemonat hat der Mai 2024 für mich doch eine ganze Reihe toller Bücher für die Lektüre geboten. Nur zufällig waren eine palästinensiche und eine jüdische Familiengeschichte darunter. Beide auf ihre Art tolle Bücher von tollen Autorinnen. Sowohlt Franziska Gänsler als auch Paul Murray wussten mich mit ihren Geschichten zu begeistern und der neue Liewe Cupido-Roman von Mathijs Deen bot wieder ruhige, spannende Unterhaltung. Ebenso an die Nordsee führte der Sylt-Roman von Silke von Bremen. Und Nora Krug erlaubte einen illustrierten Blick in die Kriegswirklichkeit in der Ukraine. Lediglich der neue Roman von Deniz Ohde hat mich doch arg enttäuscht. Gehörte ihr Debüt Streulicht doch zu einem meiner Favoriten 2020. Schließlich habe ich noch die klugen Aufzeichnungen von Gabriele von Arnim genossen. Wunderbar, dass ich sie auch auf einer Lesung zu ihrem neuen Buch Der Trost der Schönheit erleben durfte.
Joana Osman – Wo die Geister tanzen
Bereits im Sommer 2023 erschien Wo die Geister tanzen von Joana Osman. Die 1982 in München geborene Tochter eines palästinensischen Vaters und einer deutschen Mutter verarbeitet darin die Geschichte ihrer Großeltern zu einem dichten, packenden Text.
Sie begibt sich auf die Spuren ihrer Familie, nachdem sie einen Anruf ihrer Cousine Zeynep aus Istanbul erhielt. Diese hat in einer alten Keksdose Tagebücher ihres verstorbenen Vaters Mahmoud gefunden, die über dessen Kindheit und die Eltern berichten. Ein Kapitel ihrer Geschichte, die wegen des frühen Todes ihres Vaters Mohammad für sie bisher im Dunkeln lag. Man sprach nicht gern über die Vergangenheit. Es war wohl zu schmerzhaft.
Ganz anders der vorliegende Roman, der gerade dadurch so stark wirkt, dass die tragischen Ereignisse so salopp, aber empathisch erzählt werden.
Franziska Gänsler – Wie Inseln im Licht
Wie Inseln im Licht ist der zweite, auf zarte und leichte Art tief berührende Roman der 1987 geborenen Autorin Franziska Gänsler.
Die Mutter der 27jährigen Ich-Erzählerin Zoey ist nach langer, quälender Erkrankung, während der sie aufopferungsvoll von ihrer Tochter gepflegt wurde, gestorben. Die junge Frau flieht regelrecht an den einzigen Ort, den sie sich für die Bestattung vorstellen kann: die französische Atlantikküste. Dort hat sie mit der Mutter und ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Oda eine Weile gelebt, in der Erinnerung wunderschöne Kindheitssommer verbracht. Die Zeit dort endet abrupt als Zoey sieben Jahre alt ist. Was damals genau passiert ist, verliert sich für sie im Nebel, aber seit damals ist Oda spurlos verschwunden.
Zoeys Leben wurde durch unerbittliches Schweigen, durch Rätsel, durch zunächst völlig unverständliches Verhalten ihrer Umgebung bestimmt. Weder die Mutter, die nie wieder über die verschwundene Schwester sprechen wollte und alle Fragen der Tochter rigoros abblockte, noch der merkwürdig verschlossene Vater, mit dem sie nur per Videocall kommuniziert, scheinen anfangs plausible Personen zu sein.
Franziska Gänsler erzählt in Wie Inseln im Licht so leise und tastend wie eindringlich und zwingend von ihnen, von einem großen Unglück, falschen Entscheidungen und dem fatalen und letztlich vergeblichen Wunsch nach Verdrängung, dass man das Buch am Ende zuschlägt und denkt, „Ja, doch, so hätte es sein können.“ Ein Buch, das nachhallt.
Paul Murray – Der Stich der Biene
War es bereits dieser verfluchte Stich der Biene, die sich ausgerechnet auf der Fahrt zum Traualtar unter Imeldas Schleier verfangen hat und unglücklich das Auge traf, so dass sich die Braut nur noch verschleiert zeigen konnte? Oder war es überhaupt diese weithin verurteilte Heirat von Imelda mit dem Bruder ihrer erst kürzlich tödlich verunglückten großen Liebe Frank, den sie eigentlich ehelichen wollte? Oder begann das ganze Unglück von Imelda und Dickie und ihrer beiden Töchtern schon viel früher, in Kindheit und Jugend? Paul Murray untersucht in seinem für die Shortlist des Booker Prize 2023 nominierten Roman Der Stich der Biene die Tragik und Komik, die im Leben der Familie Barnes stecken. Ort der Handlung ist ein tief in der Finazkrise von 2008 steckendes Irland.
Paul Murray nimmt sich in Der Stich der Biene 700 Seiten Zeit, uns die Familie Barnes mit all ihren Schatten-, aber auch liebenswerten Seiten nah zu bringen. Er tut das unterhaltsam, witzig, ironisch, trotz aller Tragik, die immer mitschwingt. Perspektiv- und Zeitenwechsel und ein stetig gesteigertes Tempo, das nach einem epischen Anfang mit ausgedehnten Rückblicken immer mehr anzieht, immer kürzere Kapitel produziert und beim Lesen am Ende fast den Atem stocken lässt, sorgen dafür, dass keine dieser 700 Seiten langweilig wird. Dazu kommen aktuelle Themen wie z.B. Klimawandel, Finanzkrise, Internetkriminalität. Ein tolles Buch!
Der Retter ist das dritte Buch des Holländers Mathjis Deen mit Kommissar Liewe Cupido nach Der Holländer und Der Taucher.
Diesmal geht die Ermittlungsarbeit zurück ins Jahr 1995, als der Schlepper Pollux in der Nordsee havarierte. Alle Besatzungsmitglieder konnten gerettet werden, bis auf den Kapitätn Jakob Peiser. Vor der englischen Küste wird nun ein Skelett gefunden, dessen Zahnstatus eindeutig auf den Kaitän passt. Was ist damals geschehen? Kommissar Liewe Cupido ist wenig scharf auf den Fall. Ihn treibt seit Der Taucher der Tod seines Vaters um. Der erfahrene Fischer Jan Cupido ist ertrunken als Liewe noch ein kleiner Junge war. Die Umstände dieses Todes liegen ebenfalls im Dunkeln. Deshalb ist Liewe froh, dass sein junger Kollege Xander Rimbach auf der Insel Norderney ermittelt. Als dieser allerdings eine schwere Vergiftung erleidet, muss der Kommissar wohl oder übel einspringen.
Auch in Der Retter geht Mathijs Deen so leise und bedächtig den kleinen und großen Tragödien hinter dem zu ermittelnden Tatbestand nach wie in den vorherigen Büchern. Großartige Landschaftsbeschreibungen des rauen Wattenmeeres und seiner Inseln verbreiten eine große Ruhe. Man spürt förmlich die Weite der Nordsee. Dabei ist Deen aber meilenweit entfernt von jeder Art von Regionalkrimi oder von falscher Inselromantik. Das Leben dort ist keine beschauliche Postkartenidylle.
Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend
Eine schicksalhaft dargestellte toxische Beziehung der Ich-Erzählerin Yasemin mit einem Jugendfreund, ein Femizid und die Entwicklungsgeschichte einer jungen Frau, die nicht nur eine schmerzhafte Wirbelsäulenverletzung, sondern auch ihre eigene liebenswürdige Unauffälligkeit bezwingen muss erzählt Deniz Ohde in ihrem zweiten Roman nach dem Bestseller Streulicht.
Das Buch ist leider trotz der potentiell interessanten Themen meiner Meinung nach nicht gelungen. Es ist überladen, überdeutlich, wenig ambivalent. Es fehlen mir die Hintergründe, um die Figuren zu verstehen oder auch nur Sympathie für sie aufzubringen. Statistiken und Deutungen lassen zudem den Erzählfluss immer wieder unterbrechen, machen das Anliegen der Autorin überdeutlich. Enttäuschend.
Dana von Suffrin- Nochmal von vorne
Vater Mordechai Jeruscher ist nach seiner Zeit in Israel, wohin die Familie nach überstandener Shoa ausgewandert ist, in München gelandet. Hier wollte er sein Chemiestudium abschließen, was aber irgendwie nicht gelang. Hier lernte er die aktivistische Studentin Veronika kennen. Und obwohl die Beiden überhaupt nicht zusammen passten heirateten sie und bekamen die Töchter Nadja und Rosa.
Nun ist Mordechai an Krebs gestorben. Ich-Erzählerin Rosa regelt den Nachlass, stellt fest, dass sie weder Adresse noch Telefonnummer ihrer Schwester Nadja besitzt. Ihre Mutter Veronika hat ihren Mann schon vor langer Zeit verlassen, wenig Kontakt zu ihren Töchtern gepflegt und ist nun während einer Thailandreise mit ihrem neuen Lebenspartner verschwunden. Rosa ist auf sich allein gestellt und spürt, wie wenig sie ihren Vater eigentlich gekannt hat. Ihre Erinnerungen und Gedanken schweifen zurück bis in die Jugend ihrer Großeltern, in die Zeit des Kennenlernen ihrer Eltern, zum Onkel Arie, der mehrmalige lebensgefährliche Einsätze im Jom Kippur Krieg überlebte, um dann bei einem Autounfall in Fürstenfeldbruck zu sterben. Sie erinnert sich an ständige Streitereien ihrer Eltern und seltene Momente der Verbundenheit. An ein ambivalentes Verhältnis zu ihrer Schwester, die sie seit sechs Jahren nicht mehr gesehen hat.
Rosa erzählt von ihrer chaotischen, eher dysfunktionalen Familie und von ihrer turbulenten Kindheit locker, gelassen, witzig, spöttisch und oft auch ein wenig böse. Trotzdem ist dahinter Melancholie und auch Verletzung spürbar. Gegenseitige Vorwürfe, Missverständnisse, Entfremdung – man redet nicht drüber. Jeder scheint eingeschlossen in einen Kokon des Unglücks. Trotzdem ist es ein positives, ein hoffnungsvolles und liebevolles Buch geworden. Große Empfehlung!
Gabriele von Arnim – Liebe Enkel oder Die Kunst der Zuversicht
Ein Leben ohne Zuversicht ist kaum möglich. Zumindest die Zuversicht, am nächsten Morgen wieder zu erwachen, dass die Welt noch besteht, dass das Leben weitergeht. Diese Zuversicht ist der Ursprung für Innovationen, Veränderungen, aber auch für die Pflege und das Bewahren von Dingen und Beziehungen. Wenn es keine Zuversicht in ein zumindest potentiell gutes Morgen gäbe, warum dann sorgfältig umgehen mit den Menschen um uns, mit der Natur, mit uns selbst.
„Ein Mensch mit Zuversicht sieht und erkennt die Wirklichkeit, wie sie ist, und ist trotzdem oder gerade entschlossen, die Welt oder jedenfalls den kleinen Ausschnitt von ihr, in der er oder sie lebt, so mitzugestalten, dass sie wird, wie sie sein sollte und sein könnte. Zuversicht heißt, die Zustände erkennen und sich nicht überwältigen lassen.“
Zuversicht ist deshalb laut Gabriele von Arnim etwas Aktives, Tatkräftiges, im Gegensatz zur Hoffnung. Die aber auch nötig ist. Hoffnung und Zuversicht sind gerade in den heutigen, sich so schnell drehenden und manchmal zurecht sehr beängstigenden Tagen notwendig, um nicht an der Welt zu verzweifeln. Im Grunde war das aber schon immer so.
„Zuversicht heißt nicht, die Welt bewahren zu wollen, wie sie ist, sondern die Kraft zu haben, mit den Veränderungen umzugehen, mit Unbestand und Neubeginn.“
Unbestand und Neubeginn sind im Moment besonders spürbar. Und in den Diskussionen fehlt neben den Bedrohungen und Befürchtungen immer wieder die Zuversicht, Veränderungen positiv gestalten zu können. Es fehlt in den öffentlichen Debatten sehr oft an Zuversicht.
„Bisher wollten wir die Zuversicht nicht einüben, weil wir trügerisch glaubten, es läuft doch. Weil wir viel zu lange nicht hingesehen, hingeschaut, hingefühlt hatten. Das hat sich geändert. Die Situation hat sich geändert. Endlich dämmert es uns, wie es um uns steht.“
Die vielen klugen Gedanken, die die 1946 geborene Gabriele von Arnim in ihrem schmalen Buch aus der Kjona Reihe »Briefe an die kommenden Generationen« formuliert und von verschiedenen Quellen zitiert, verbreiten nicht die These „Alles wird gut“, aber sie machen Mut zur Zuversicht, zum Mitwirken an der Gestaltung einer lebenswerten Zukunft. Und das in einer eleganten, ruhigen, sehr persönlichen Prosa, der man gerne folgt. Eine Wohltat!
Ich freue mich immer besonders, wenn mir der Elif Verlag, dessen Verleger Dinçer Güçyeter um meine oft Hilflosigkeit gegenüber moderner Lyrik weiß, mit einem neuen Gedichtband wieder einen kleinen Stups gibt, mich mal wieder mit ihr zu beschäftigen. Besonders freue ich mich, dass der kleine, rege Nettetaler Verlag immer wieder so schön und sorgfältig gestaltete Bücher herausgibt (zuletzt Türschwellenkinder, aber auch die Gedichte des Norwegers Knut Ødegård). Ein kleiner Schwerpunkt in seiner Lyrik-Abteilung sind die isländischen Gedichte, was aus der Zusammenarbeit und Freundschaft mit Übersetzer Wolfgang Schiffer – Dass die Erde einen Buckel werferesultiert, der nun zusammen mit Jon Thor Gislason eine autorisierte Übersetzung von Gedichten des Isländers Sjón herausgegeben hat.
Sjón, mit bürgerlichem Namen Sigurjon Birgir Sigurdsson, ist bekannt als Texter für die Sängerin Björk, hat im S. Fischer Verlag auch bereits Romane auf Deutsch veröffentlicht und versammelt nun sehr vielgestaltige Gedichte und Kurzprosa in seinem Gedichtband Nachtarbeit. Wie immer bei Elif sorgfältig übersetzt und herausgegeben und (wie oft) zweisprachig. Ein Motto der britisch-mexikanische surrealistischen Künstlerin Künstlerin Leonora Carrington ist vorangestellt ist: „Die Aufgabe des rechten Auges ist es, in das Teleskop zu schauen, während das linke in das Mikroskop schaut.“
Das Nahe und das Ferne, das Überwinden von Grenzen, das Alltägliche und das Mythische, viel Natur, Vögel, Bäume und das alles in einem melancholischen Grundton, der aber die Hoffnung nicht ausschließt – so kamen mir die sowohl in Inhalt als auch in der Form sehr vielgestaltigen Texte entgegen. Nicht unbedingt leicht zugänglich, leise und etwas spröde.
Direkt nach Kriegsbeginn suchte die Illustratorin Nora Krug Kontakt zu ihr bekannten Menschen sowohl in der Ukraine als auch in Russland. Sie fand eine ukrainische Journalistin aus Kiew und einen russischen Künstler aus Sankt Petersburg, die bereit waren, sich mit ihr auszutauschen und gemeinsam an einem Projekt zu arbeiten. Gar nicht so einfach, denn verständlicherweise wollten viele Ukrainer:innen keinen Kontakt zu Russen. Krug bat die Beiden, ihr wöchentlich kurz zu berichten, wie es ihnen ging, was sie erlebt haben, was sie dachten und fühlten. In der darauffolgenden Woche erschienen diese Tagebuchaufzeichnungen als Serie in der Los Angeles Times. Und sind nun, ein Jahr später, übersetzt als Buch bei Penguin erschienen.
Auf sich jeweils gegenüberliegenden Seiten, die farblich anders coloriert sind, stehen nun die Aufzeichnungen der Ukrainerin K. und des Russen D. K. pendelt von Kopenhagen, wo sie die beiden Kinder und ihre Mutter in Sicherheit gebracht hat, zurück zu ihrem in der Ukraine gebliebenen Mann, in die Kiewer Wohnung und an die Frontlinien, um von dort zu berichten. Ihre Erfahrungen sind unmittelbar, immer wieder von Angst um ihr nahestehende Personen durchsetzt. Die Trennung der Familie macht ihr genauso zu schaffen wie die Eindrücke vom unmittelbaren Kriegsgebiet. D. ist zwar Kriegsgegner, hat zu Beginn des Krieges auch eine Petition dagegen unterschrieben, ihm fehlen aber die Möglichkeiten und auch die Zivilcourage, wirklich etwas zu unternehmen. Er steckt in einem inneren Kampf, leidet mit der Ukraine, flieht immer wieder über die Grenze, auch um einer Rekrutierung zu entgehen, lebt längere Zeit in Paris. Da seine Familie wegen fehlender Visa nicht ausreisen kann, kommt er aber immer wieder zurück. Und schließlich ist in Russland von Krieg noch viel zu wenig zu spüren.
Es sind zwei Lebenswirklichkeiten, die hier aufeinanderprallen. Während K. und ihr Mann tagtäglich direkt betroffen sind, Bombardements ertragen müssen, die Angst zu spüren bekommen, läuft das Leben in Russland nahezu unverändert weiter. Lediglich die Kinder murren, weil keine neuen Nintendo Spiele zu bekommen sind oder McDonalds geschlossen hat. Die Textblöcke sind in einer Art Handlettering gesetzt, auf Linienpapier, was sie sehr authentisch macht. Die zurückhaltenden, flächigen Illustrationen untersteichen sie noch. Der Textanteil wird mit fortschreitendem Kriegsverlauf größer, die Illustrationen treten noch mehr zurück. Sehr oft, auf fast jedem Bild, sind Hände zu sehen. Hände als Ausdruck von Gefühlen. 52×2 Einsichten in ein Jahr Krieg.