Vor fünf Jahren wirbelte ein Debütroman durch die deutschen Feuilletons und in die Herzen der Lesenden, der voll Witz und Tragik war, turbulent und feinfühlig von einer deutsch-jüdischen Familie und besonders vom tyrannischen Vater Otto erzählte. Für Nochmal von vorn wählt die Autorin Dana von Suffrin ein sehr ähnliches Personal und Setting. Und arrangiert alles neu und erzählt eine Familiengeschichte, die deutlich autobiografische Züge trägt, auch wenn sie Fiktion ist, quasi „nochmal von vorn“.
Es beginnt mit einer absurden historischen Episode – Dana von Suffrin ist auch promovierte Historikerin. In dieser Eingangsszene sitzen die vier Außenminister des Deutschen Reichs, Ungarns, Rumäniens und Italiens 1940 zusammen, um über den neuen Grenzverlauf zwischen Ungarn und Rumänien zu entscheiden. Letztendlich entscheidet der nicht angespitzte Blaustift des Führers darüber und Nordsiebenbürgen wird nicht mehr Rumänien sondern Ungarn zugesprochen.
„Ich weiß nicht, wer uns alle durch die Geschichte schmettert und uns an den blödesten Orten aufkommen lässt.“
Eine jüdische Familie in München
Der letzte dieser blöden Orte, an denen der Vater Mordechai Jeruscher nach seiner Zeit in Israel, wohin die Familie nach überstandener Shoa ausgewandert ist und wo in Tel Aviv nach wie vor die Großmutter Zsazsa – nach dem Tod ihres Mannes Tibor im „schrecklichen Seniorenheim in Holon“ – lebt, ist München. Hier wollte er sein Chemiestudium abschließen, was aber irgendwie nicht gelang. Stattdessen überprüfte er als Laborant die Wasserqualität Münchner Schwimmbäder. Hier lernte er die aktivistische Studentin Veronika kennen. Und obwohl die Beiden überhaupt nicht zusammen passten heirateten sie und bekamen die Töchter Nadja und Rosa.
Nun ist Mordechai an Krebs gestorben. Ich-Erzählerin Rosa regelt den Nachlass, stellt fest wie sehr ihr der Ex-Freund David fehlt und dass sie weder Adresse noch Telefonnummer ihrer Schwester Nadja besitzt. Mutter Veronika hat ihren Mann schon vor langer Zeit verlassen, wenig Kontakt zu ihren Töchtern gepflegt und ist nun während einer Thailandreise mit ihrem neuen Lebenspartner verschwunden. Rosa ist auf sich allein gestellt und spürt, wie wenig sie ihren Vater, der am liebsten allein war, eigentlich gekannt hat.
„Und am zweitliebsten grübelte er, denn so arbeitete sein Kopf einfach, die traurigen Gedanken kamen viel schneller zu ihm als die guten, und er sagte, das sei eine jüdische Eigenschaft, und so hätten all seine Vorfahren gelebt“.
Erinnerungen
Rosas Erinnerungen und Gedanken schweifen zurück bis in die Jugend ihrer Großeltern, in die Zeit des Kennenlernen ihrer Eltern, zum Onkel Arie, der mehrmalige lebensgefährliche Einsätze im Jom Kippur Krieg überlebte, um dann bei einem Autounfall in Fürstenfeldbruck zu sterben. sie erinnert sich an ständige Streitereien ihrer Eltern und seltene Momente der Verbundenheit. An ein ambivalentes Verhältnis zu ihrer Schwester, die sie seit sechs Jahren nicht mehr gesehen hat.
Rosa erzählt von ihrer chaotischen, eher dysfunktionalen Familie und von ihrer turbulenten Kindheit locker, gelassen, witzig, spöttisch und oft auch ein wenig böse. Trotzdem ist dahinter Melancholie und auch Verletzung spürbar. Wie Dana von Suffrin in einem Gespräch enthüllt ist der Familienname Jeruscher eine „Eindeutschung“ von Jerusha, was auch Erbschaft bedeutet. Und wie alle Figuren in Dana von Suffrins Familienromanen schleppen sie diese Erbschaft mit sich herum. Die Erbschaft des Judentums, der Shoa, der Diaspora, vor allem aber auch die der ewig scheiternden Kommunikation. Gegenseitige Vorwürfe, Missverständnisse, Entfremdung – man redet nicht drüber. Jeder scheint eingeschlossen in einen Kokon des Unglücks.
Schönheit
Dana von Suffrin war Gast im Eröffnungspanel des Literaturmfestivals Frankfurt, das sich 2024 das Motto „On Beauty“ trug. Es drehte sich um die Schönheit. Zunächst habe ich gestutzt und habe mich gefragt, warum wurde gerade diese Autorin mit genau diesem Buch dazu eingeladen? Aber ja, es geht in Nochmal von vorne auch darum, dass diese Familie die Schönheit nicht in ihr Leben lässt. Und dadurch ihr Unglück potenziert. Oder anders herum durch ihr Unglück nicht in der Lage ist, Schönheit zuzulassen.
„Unsere Küche war übrigens ein abscheulicher Ort, und obwohl sie uns alle mit Unbehagen erfüllte, kamen wir nie auf die Idee, daran etwas zu ändern.“
Noch so ein Erbe. Aber es erstaunt auch nicht, dass trotz allem auch Verbundenheit herrscht bei der Familie Jeruscher. Man liest gern von ihr. Und gern auch nochmal von vorne.
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Dana von Suffrin – Nochmal von vorne
Kiepenheuer&Witsch März 2024, gebunden, 240 Seiten, € 23,00