2020 erschien der Debütroman Streulicht und schaffte es nicht nur auf die Auswahlliste zum Deutschen Buchpreis, erhielt den Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und den aspekte-Literaturpreis, sondern gewann auch den Literaturpreis für Blogger:innen Das Debüt, in dessen Jury ich damals mitwirken durfte, und wurde 2022 das Buch für das von mir sehr geliebte Lesefestival „Frankfurt liest ein Buch“. Ich war deshalb megagespannt auf den neuen Roman von Deniz Ohde, Ich stelle mich schlafend. Einige fundierte, aber negative Rezensionen, eine Lesung mit der Autorin, die mich leider nicht ganz überzeugen konnte, und ein Klappentext, der mich nur relativ mäßig interessierte, konnten mich nicht davon abhalten, mich auf das Buch zu freuen. Leider hat es mich dann letztendlich aber doch enttäuscht.
Worum geht es? Yasemin, aus deren Sicht erzählt wird, steht zu Beginn vor einer Brache, auf der bis vor kurzem das Haus stand, in dem sie gewohnt hat. Was passiert ist, eine Explosion, ein Feuer, wird hier nur angedeutet. Das soll neugierig machen und wird im Verlauf des Textes immer wieder mal erwähnt. Zunächst springt der Text aber zu einer Retrospektive. Yasemin, die „aus einem gebrochenen Willen gezeugt worden“ ist, „Sie war durch einen Kaiserschnitt auf die Welt gekommen.“ Was immer die Autorin damit andeuten will – dieses oftmals eingesetzte unheilvolle Raunen ist einer der Punkte, die mich gleich zu Beginn an dem Text gestört haben. Worte, Sätze, Dinge werden mit Bedeutung künstlich aufgeladen.
Toxische Beziehung und Femizid
Ebenso gleich zu Beginn wird von der Freundschaft zu Immacolata erzählt. Natürlich ist auch dieser Name voll Bedeutung. Immacolata, die Reine, Unbefleckte. Und dass mit dieser Freundin etwas Schlimmes geschehen ist, wird auch bereits im ersten Kapitel klar. Eine weitere, ältere Freundin ist Lydia, ehemals Krankenpflegerin und nun Kosmetikerin, die Yase(min) oft mit Haut- und Körperpflege verwöhnt. Denn: „Yasemins Haut hatte die Eigenschaft, bei Müdigkeit zu schmerzen.“ Außerdem bringt sie Yasemin das Tarot näher und die Neigung, in allem Möglichen Zeichen zu sehen.
Als Zeichen, als Schicksal betrachtet die 14jährige Yasemin auch ihr erstes Zusammentreffen mit dem drei Jahre älteren Nachbarsjungen Vito. Eine unwiderstehliche Anziehung treibt sie zu diesem wortkargen, immer etwas düsteren und geheimnisvoll erscheinenden jungen Mann. Eine solch starke Anziehung, dass sie einen Liebeszauber ausführt, um ihn für sich zu gewinnen. Das klappt anscheinend auch ganz gut und die beiden werden kurz ein Paar. Ein Reitunfall führt bei Yasemin allerdings zu einer schmerzhaften Wirbelsäulenverdrehung, einer Skoliose, die einen längeren Sanatoriumsaufenthalt und nachfolgend das Tragen eines Korsetts erfordert.
Dadurch wird für Yasemin vieles anders, quälender, peinlicher. Sie trennt sich von Vito. Dieser Entschluss ist leider ebenso wenig nachvollziehbar und schlüssig wie zuvor die Beziehung zu Vito. Dass die beiden jungen Menschen sich so zueinander hingezogen fühlen, wird nur behauptet, aber nirgendwo spürbar. Yasemin treibt es zunehmend in einen Ordnungs- und Sauberkeitszwang, gleichzeitig in eine Art Selbsthass und einen übertriebenen Kult um Körper- und Schönheitspflege. In der Folge stürzt sie sich in relativ wahllose Affären, hat Sex mit Männern aber „nur aus Freundlichkeit“ und mit Schuldgefühlen. Sie führt aber gleichzeitig eine Liste ihrer Liebhaber, einen „Bodycount“, auf der sie alle Typen aufzählt.
Wenig schlüssig
Dieses scheußliche und merkwürdige Verhalten ist auch nicht schlüssig. Weil ein Arzt mal zu ihr gesagt hat, sie wäre „unauffällig freundlich“? Die Theorie dahinter, die Tatsache, dass viele Frauen sich in diese unauffällige Freundlichkeit flüchten, um nicht anzuecken, um zu gefallen, ist wohl zutreffend, aber hier wird das nicht spürbar, sondern nur als These gesetzt. Wo sind die Hintergründe? Über Yasemins Eltern wird kaum etwas erzählt. Der Vater ist meist auf Montage und unnahbar, die Mutter vergräbt eigene Frustrationen in manischen Haushaltsaktivitäten. Aber auch das wird nur behauptet und nicht gezeigt. Was sind Yasemins Hobbys, was passiert ihr bei ihrer Arbeit als Mitarbeiterin in der Buchhaltung eines Warenhauses? Keine Ahnung, wird nicht erzählt.
Zwanzig Jahre nach ihrer kurzen Beziehung zu Vito sieht sie ihn wieder. Und wieder scheint alles zwingend und unausweichlich. Sie verlässt Hermann, mit dem sie eine zehnjährige Beziehung verband, Knall auf Fall. Dass sich die Affäre mit dem mittlerweile kleinkriminellen Vito, der es wohl immer noch nicht geschafft hat, ein geregeltes Leben zu führen, toxisch entwickeln wird, ist offensichtlich. Manipulierend und einengend tritt Vito auf. Wenig wird gleichzeitig über Immacolatas Leben bekannt, die Opfer eines Femizids wird.
Gelungen?
Der Roman ist leider trotz der potentiell interessanten Themen meiner Meinung nach nicht gelungen. Er ist überladen, überdeutlich, wenig ambivalent. Es fehlen mir die Hintergründe, um die Figuren zu verstehen oder auch nur Sympathie für sie aufzubringen. Statistiken und Deutungen lassen zudem den Erzählfluss immer wieder unterbrechen, machen das Anliegen der Autorin überdeutlich. Es gibt keinerlei Humor oder Selbstironie, stattdessen Passagen, die fast ein wenig kitschig sind, z.B. die „Augen wie flüssiger Waldhonig“.
Zwischendurch finden sich aber auch immer wieder Abschnitte, die zeigen, wie toll Deniz Ohde eigentlich erzählen kann. In einem Gespräch berichtete sie, dass sie den Kern des Romans schon sehr lange, eigentlich seit der Jugendzeit mit sich herumträgt. Dass sie Streulicht quasi nur dazwischengeschoben hat. Es ist ihr ernst mit dem Text. Vielleicht kann sie, nachdem sie sich vom Gewicht dieser Themen nun freigeschrieben hat, wieder an ihren Debütroman anknüpfen. Ich bin sehr gespannt.
Beitragsbild: via pxhere
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Deniz Ohde – Ich stelle mich schlafend
Suhrkamp März 2024, fester Einband, 248 Seiten, € 25,00
Ja, das ging mir wie Ihnen: Auch ich fand „Streulicht“ toll und war dann von „Ich stelle mich schlafend“ enttäuscht – und irritiert, weil ich nicht wusste, was das nun sollte. Auf die Spur gebracht hat mich eine der vielen negativen Rezensionen. Da hieß es nämlich: Die Erzählhaltung stimmt nicht. Und genau das ist es: Ohde vermischt die ahnungslose, skurrile bis abwegige Sicht der Hauptperson mit auktorialen Interpretationen und sich rational gebenden Erläuterungen. Dadurch entsteht der Eindruck, das sei alles ernst gemeint.
Ach, hätte sie doch konsequent aus der Verstörtheit der Hauptperson geschrieben. Dann hätte ich als Leser schon gemerkt, dass zum Beispiel der Hinweis auf den Kaiserschnitt eine schnell aus der Alternativmedizin hergegriffene Ausrede ist – und umso deutlicher gespürt, wie orientierungslos die Figur ist.
An manchen Stellen ist das sogar gelungen: Recht gut fand ich eben die Episoden um die „Teenagerliebe“ von Yasemin und Vito. Hier macht die Autorin doch recht gut deutlich, dass die beiden sich eben nicht zueinander hingezogen fühlen, sondern beide (Außenseiter) versuchen, einer gesellschaftlichen Norm zu genügen, ohne dass es ihnen gelingt, sie mit ehrlichen eigenen Gefühlen zu verbinden. Yasemins backfischhafte Beteuerungen von der großen Liebe unterstreichen das nur.
Endlich die „abscheuliche“ Bodycount-Liste. Ich fand das eher herzzerreißend traurig. Ich meine, so etwas gibt es doch, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen. Auch in meinem Freundeskreis gibt es eine Frau, die ähnliches erlebt hat. Und wahrscheinlich gibt es die in fast jedem Freundeskreis.
Ich hätte mir gewünscht, Ohde hätte uns dieses verstörende Schicksal so direkt vor die Nase gesetzt, in seiner Abstrusität und Rätselhaftigkeit und ohne es durch Statistiken und ideologische Interpretationen zu verwässern – oder aber sie hätte klar auktorial erzählt. Aber dann hätte sie vielleicht auf die eine oder andere allzu abartige Ausrede ihrer Protaganistin verzichten und vor allem ausdifferenzierte Hintergründe liefern müssen, wie Sie sie vermisst haben.
Vielen Dank für Ihre ausführlichen und differenzierten Anmerkungen. Es kann tatsächlich an der Erzählhaltung liegen, vielleicht sogar vorwiegend. Dadurch entsteht dieser Eindruck der Unentschlossenheit. Zumindest bei mir kommt aber dazu, dass mir die Protagonistin (und erst recht Vito) durchweg fern blieb. Was wieder mit den fehlenden Hintergründen zu tun hat. Ja, schade. Ich hoffe aber auf Deniz Ohdes nächstes Buch, denn ich bin davon überzeugt, dass sie eine tolle Autorin ist. Viele Grüße!