Den japanischen Autor Fuminori Nakamura kenne ich von seinem 2015 erschienenen originellen Kriminalroman Der Dieb, der wie auch die nachfolgenden Romane im Feuilleton begeistert besprochen wurde. Entsprechend gespannt war ich auf seine neueste, von Louise Steggewentz ins Deutsche übertragene Veröffentlichung Die Flucht.
Es beginnt in Köln. Der Journalist Yamamine Kenji hat sich in einem Zimmer verkrochen. Er wird von einem mysteriösen Mann namens B. gejagt und aufgespürt und entkommt dessen grausamen Todesdrohungen nur knapp. Den Leser:innen wird gleich in dieser Eröffnunssequenz in Kürzestform auseinandergesetzt, um was es geht: In Yamamine Kenjis Besitz befindet sich eine legendäre Trompete, mit der der Musiker und Soldat Suzuki im Zweiten Weltkrieg seine japanischen Kameraden derart beflügelt und fanatisiert habe, dass sie sich gegen eine erdrückende Übermacht US-amerikanischer Truppen behaupten konnten. Dieser „Teufelstrompete“ wird nachgesagt, Menschen zu fanatischem Nationalismus und Vaterlandsliebe zu bewegen. Sie wäre ideales Objekt also für ultranationale Kreise, die nun auch mit Macht und Gewalt an die Trompete zu kommen gedenken.
Ein Autor auf der Flucht
Yamamine Kenji ist der eher linke Autor des Sachbuchs „Menschen, die am Krieg verdienen“ und will unbedingt verhindern, dass die Trompete in falsche Hände gerät. Er schreibt an einem Artikel über die Legende um Suzuki und hat während der Recherche das Instrument auf den Philippinen aufgespürt, wo es spielende Kinder in einem Schuppen gefunden hatten. Auf den Philippinen lernt er auch die Vietnamesin Anh kennen und lieben, die ihm nach Japan folgt. Bei einer Demonstration kommt die Frau unglücklich ums Leben. Die Trauer um Anh begleitet Yamamine bei seiner Flucht vor den ihn und die Trompete verfolgenden ominösen Gruppen. Da ist zum Beispiel die ultranationale Q-Sekte. Und in welchem Auftrag verfolgt ihn der grausame B.? Das ganze bleibt ein gutes Stück nebulös, rätselhaft und undurchsichtig.
Tatsächlich ist diese Verfolgungs- und Fluchtgeschichte eher der schwächere Part der von Fuminori Nakamura episch aufgespannten Geschichte Die Flucht, die um viele Themen kreist und sich in zahlreichen Anekdoten (fast) verliert. Der Kölner Dom und die Urakami-Kathedrale in Nagasaki- Deutschland und Japan, einst Verbündete im Weltkrieg, ähneln sich offensichtlich auch in den jüngsten politischen Entwicklungen (ein beklemmender Trend in vielen Ecken Europas und der Welt). Rechtsruck, erstarkender Nationalismus, Populismus in den sozialen Medien, Fremdenfeindlichkeit und eine zunehmend repressive Atmosphäre beklagt der japanische Journalist. Das ist uns nicht allzu fremd. „Vielleicht sieht so der Vorabend einer Diktatur aus“ befürchtet er.
„Bei manchen Menschen würden starke Emotionen die Vernunft und das Denken verhärten. Ein solcher Mensch ließe sich nicht durch logische Argumente, sondern nur durch andere, ebenso starke Emotionen verändern. Außerdem müsse man ihm einen ebenso reizvollen Gegenentwurf bereitstellen, da eine Veränderung der Weltanschauung sonst kaum gelänge.“
Viele wichtige Themen
Auch diese Überlegungen sind hierzulande nicht unbekannt. Völkischer Nationalismus, der Vietnamkrieg, die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki, die Christenverfolgung in Japan bis ins 19. Jahrhundert, Kritik am Gute-Welt-Glauben – Nakamura spricht viele Themen an. Das macht den Roman nicht unbedingt sehr leicht konsumierbar, ist aber höchst interessant. Ich bin ihm jedenfalls über viele der insgesamt 582 Seiten sehr gebannt gefolgt und war gegenüber der eigentlichen Thrillerhandlung und der Liebesgeschichte mit Anh fast ein wenig ungeduldig. Für meinen Geschmack zu oft ergeht sich der Autor zudem in allzu minutiösen Schilderungen von Folter und Grausamkeiten. Da hätte gern ein wenig gekürzt werden können.
„Ist es für die Gesellschaft und jeden Einzelnen wirklich gut, nur zu hören, was man sich wünscht?“
Nakamuras Antwort auf diese Frage ist deutlich. Und wie um sie zu bekräftigen, liefert auch sein Thriller nur bedingt das, was sich das geneigte Publikum erhofft. Er macht es ihm nicht ganz einfach. Gegen Ende fügt er noch ausführliche Aufzeichnungen des Trompeters Suzuki bei und sinniert über das Erzählen, Bücher und das Schreiben an sich. Aber wer von uns könnte ihm nicht hierbei zustimmen:
„Sie wissen sicher, wie viele Bücher er dort hatte. Sie seien für sein Dasein in dieser Welt existenziell. Man könnte sie auch in Bibliotheken oder Buchläden finden, aber er bräuchte das Gefühl, sie immer um sich zu haben.“
Komplex
Die Flucht ist ein komplexer, nicht immer leicht zu durchschauender Roman. Das muss auch Nakamura klar gewesen sein. In einem Epilog wiederholt er deshalb einzelne Handlungsstränge, was ich etwas überflüssig und redundant finde. Dem Ganzen fügt er dann noch ein Nachwort bei.
„Mir ist bewusst, dass Kommentare dieser Art eigentlich die Aufgabe von Rezensenten und Literaturkritikern sind, aber da bislang nicht auf die genannten Punkte eingegangen wurde und seit der Erstausgabe (Anm. 2020) schon einige Zeit verstrichen ist, möchte ich zugunsten meiner Leserinnen und Leser nun selbst darauf hinweisen.“
Ein Autor, der seinen Interpreten misstraut? Interessanterweise liefert er im Roman schon recht früh den Kommentar eines Lesers hinzu.
„Er hatte darin viele aufschlussreiche Hinweise für das Verständnis des Romans gegeben. Doch ein Leser schrieb dazu: „Mich hat gestört, dass im Nachwort Dinge standen, auf die ich selbst nicht gekommen wäre.“
Manches darf hier nebulös bleiben, sogar nicht überzeugen. Eine spannende, kurzweilige und interessante Lektüre ist es allemal.
Eine weitere Besprechung findet ihr beim Leseschatz
Beitragsbild by Staatliches Institut für Musikforschung, Musikinstrumenten-Museum / Simon Schnepp, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
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Fuminori Nakamura – Die Flucht
Aus dem Japanischen von Luise Steggewentz
Diogenes März 2024, Hardcover Leinen, 592 Seiten, € 30.00