Lektüre Juni 2024

Meine Lektüre im Juni 2024: abwechslungsreich und anregend. Zwei Bücher habe ich bereits zur Vorbereitung auf das diesjährige Literaricum in Lech am Alberg gelesen, das ich im Juli besuchen werde: Lolita von Vladimir Nabokov, den Klassiker, der im Mittelpunkt steht, und Muna oder die Hälfte des Lebens von Terézia Mora, die Gast sein wird. (zu beiden mehr in einem späteren Beitrag) Ferner haben sich zwei Sachbücher in meine Leseliste geschlichen. Marseille 1940 von Uwe Wittstock war gleichzeitig meine Highlight des Monats und ist ein wunderbar erzählendes Sachbuch über „die große Flucht der Literatur“. Die Sprache des Kapitalismus von Simon Sahner und Daniel Stähr war sehr aufschlussreich und gut lesbar. Mit Silke von Bremen (Stumme Zeit) durfte ich Anfang des Monats an einer Führung im malerischen Sylter Örtchen Keitum teilnehmen, bei der mir die sehr sympathische Autorin Insel und Roman auf wunderbare Art näher brachte.

Die Schönheit der Rosalind Bone - Alex-McCarthyAlex McCarthy – Die Schönheit der Rosalind Bone

Die schöne Rosalind hat ihren kleinen, tristen Heimatort Cwmcysgod in Wales verlassen, als sie fünfzehn war. „Die hat sich doch sowieso immer für etwas Besseres gehalten“, so der Tenor bei den Bewohnern. Besonders die Damen des Ortes haben ihr ihre Schönheit nie verziehen. Auch bei der eigenen Mutter hat sie Neid hervorgerufen und selbst die Schwester Mary, die Unscheinbare, zu der sie stets ein inniges Verhältnis hatte, hat sich irgendwann, als das eigene Aussehen wichtiger wurde, zurückgezogen. Deshalb hat auch nie jemand nachgeforscht, was aus Rosalind geworden ist. Ob sie überhaupt noch lebt.

Mit diesem doch recht klischeebeladenen Szenario hatte ich die ersten Schwierigkeiten mit dem Debütroman der Waliserin Alex McCarthy, Die Schönheit der Rosalind Bone. Und während sämtliche weibliche Wesen des Ortes vor Neid und Missgunst zerfressen sind, sind die Männer nichts als geifernde, auf Busen und schöne Gesichter starrende Wichte. Außer Marys und Rosalinds Vater vielleicht, der aber leider zu früh im Bergwerk von Cwmcysgod blieb. Seit diesem schweren Unglück blieb die einzige Erwerbsquelle der Gegend geschlossen. Arbeitslosigkeit, Trunksucht und häusliche Gewalt regieren und machen die der Langeweile verfallenen Bewohner nicht gerade gnädiger. Jugendliche holen sich den Kick mit Drogen und Brandstiftung. Dass sich nie jemand über den Verbleib der minderjährigen Rosalind Gedanken gemacht hat, erscheint mir aber wenig glaubwürdig.

Bei einer der Brandstiftungen wird eine alte Obdachlose im Wald schwer verletzt. Gleichzeitig macht sich Marys Tochter Catrin Gedanken über ihre Tante Rosalind und stellt Recherchen an. Wie sich die Geschichte entwickeln wird, ist leider viel zu früh klar und nimmt einiges an Spannung. Das und die klischeebeladenen Bilder von neidischen Frauen und hormongesteuerten Männer trüben mir ein wenig die eigentlich gut, ruhig, sprachlich ansprechend erzählte Geschichte. „Fast märchenhaft“ wird der schmale Roman vom Verlag genannt. Und wenn man diese Einschätzung übernimmt, dann passt es auch wieder. Ein Märchen braucht starke Gegensätze von Gut und Böse und klar verlaufende Grenzen dazwischen. Überhaupt Eindeutigkeit. Und die Moral von der Geschicht`? Auch Schönheit kann eine Last sein. Ebenso wie stets übersehen zu werden. Und Gleichgültigkeit ist tödlich. Beinahe.

 

Silke von Bremen - Stumme ZeitSilke von Bremen – Stumme Zeit

Heimatforscherin und Sylt-Gästeführerin Silke von Bremen hat einen Deütroman geschrieben, der in die 1970er Jahre führt, als der Massentourismus begann, die Insel zu erobern. In langen Rückblicken führt er aber auch in eine sehr dunkle, in eine stumme Zeit. Hauptprotagonistin ist Helma, die seit ihrer Geburt 1936 in einem Dorf auf Sylt lebt. Die Lage nahe dem Wattenmeer und die Präsenz von vielen alten Kapitänshäusern lässt auf das Dorf Keitum schließen, einst Hauptstadt von Sylt und ein Stück lebendige Inselgeschichte, aus der Zeit des 18. Jahrhundert, als der Walfang noch die Haupterwerbsquelle der Insel Sylt war.

Hier lebt Helma nach dem Tod des wenig geliebten Vaters Sönnichen allein auf dem alten Hof und beherbergt Badegäste. Alte Aufzeichnungen führen sie zurück in die Zeit, als ihre Mutter Karen kurz nach der Geburt starb. Über sie und ihren Tod wurde nie gesprochen. Ebensowenig über das Verschwinden der Mutter ihres besten Kinderfreundes Rudi im Jahr 1944. Beide forschen nach, was ihren Müttern passiert ist und tauchen tief in eine raue, dunkle Zeit ein. Neben der Zeit des Nationalsozialismus, der auch auf Sylt wütete, wird die Zeit der 1970er Jahre lebendig, als sich das Inselleben radikal änderte, Traditionen verschwanden, aber auch Geld auf die einst bitterarme Insel strömte. Auch einst geflohene Bewohner kehren zurück. Wie die einstige Jugendliebe Helmas, Dietrich. Zeitgleich treibt ein Brandstifter sein Unwesen

Ein gut geschriebener, spannender und interessanter Einblick in die Geschichte einer Insel, die heute zum Inbegriff der Reichen geworden ist. Völlig entgegen der oft bitteren Geschichte, durch die Silke von Bremen uns bei einem Aufenthalt in Keitum kenntnisreich, sehr sympathisch und unerhaltsam geführt hat.

 

Sahner, Stähr - Die Sprache des KapitalismusSimon Sahner und Daniel Stähr – Die Sprache des Kapitalismus

Der Kulturwissenschaftler Simon Sahner und der Ökonom Daniel Stähr schreiben in ihrem Buch Die Sprache des Kapitalismus über Sprachbilder, Begriffe und Metaphern, die wir oft wie selbstvertändlich benutzen, ohne deren ideologischen Gehalt bewusst zu erfassen und ohne zu hinterfragen, wem konkret diese Sprache dient. Meist verbergen sich dahinter Strategien, um das kapitalistische System als alternativlos erscheinen zu lassen, fragwürdige Praktiken zu verschleiern und die Macht der Märkte wie eine Naturgewalt dastehen zu lassen. Dass dahinter handfeste ökonomische Interessen und das Streben nach Profit stecken, dürfte den meisten klar sein, bewusst macht man sich das aber eher selten. Dafür zu sensibilisieren, im besten Fall die Sprache zu verändern und dadurch einen Beitrag zu mehr gesellschaftlicher Gerechtigkeit zu leisten wären Ziele dieser Sprachanalyse und -kritik.

Sahner und Stähr schaffen es auf eingängige und gut lesbare Weise, Begriffe zu durchleuchten und zu hinterfragen. Wie war das zum Beispiel während der Bankenkrise? Relativ kritiklos wurde stets das Mantra des „too big to fail“ wiederholt.

„So ist garantiert, dass selbst bei eigener Misswirtschaft der Staat und damit die Gesellschaft einspringen wird, um sie zu retten. Too big to fail ist die rücksichtslose Methode, um das ‚Gewinneprivatisieren, Verluste sozialisieren‘-Ziel zu erreichen.“

So Sahner und Stähr. Sie nehmen u.a. die Sprachbilder der „unsichtbaren Hand des Marktes“, der „Klimaneutralität“ und der „Technologieoffenheit“ auseinander. Elemente der Sprache des Kapitalismus, die „eine klare Sicht auf notwendige Veränderungen unserer Lebensweise (verhindern).“

„Die Sprache des Kapitalismus hält so seit sehr langer Zeit die Behauptung aufrecht, ein gutes Leben mit all den Vorzügen von Wohlstand, Innovation, Kreativität und Individualität sei ausschließlich im Kapitalismus möglich.“

In der Sprache des Kapitalismus sei der Mensch kein Individuum, sondern lediglich ein Produktionsfaktor. So kommt es dazu, den einen „Gratismentalität“ vorzuwerfen und sie in der „sozialen Hängematte“ zu verorten, während andere zu „Privatiers“ ernannt werden. Für Sahner und Stähr auch nur Arbeitslose mit Geld.

Warum spricht man von „Geld verdienen“ und von „Geld schulden“? Wer wusste, dass „Urlaub“ vom mittelhochdeutschen „urloup“ herstammt, das Leibeigenen die Erlaubnis gewährte, sich zu entfernen. „Preise steigen“ als wäre das eine Naturgewalt wie die Inflation und nicht von Menschen gemacht. Begriffe, die man meist ohne Nachzudenken gebraucht. Ihre kritiklose Verwendung aber festigt Machtstrukturen.

Sahner und Stähr stellen mit dem Keynesianismus und der Neoklassik die einflussreichsten Denkschulen der Wirtschaftwissenschaften, hinterfragen den Mythos vom „Selfmademan“, schauen auf das koloniale Erbe des Kapitalismus am Beispiel Haitis und erläutern fachspezifische Konzepte wie den Minsky-Cycle so anschaulich, spannend und gut lesbar, dass die Lektüre nicht nur erhellend ist, sondern richtig Spaß macht.

 

Fuminori Nakamura - Die FluchtFuminori Nakamura – Die Flucht

Es beginnt in Köln. Der Journalist Yamamine Kenji hat sich in einem Zimmer verkrochen. Er wird von einem mysteriösen Mann namens B. gejagt und aufgespürt und entkommt dessen grausamen Todesdrohungen nur knapp. Den Leser:innen wird gleich in dieser Eröffnunssequenz in Kürzestform auseinandergesetzt, um was es geht: In Yamamine Kenjis Besitz befindet sich eine legendäre Trompete, mit der der Musiker und Soldat Suzuki im Zweiten Weltkrieg seine japanischen Kameraden derart beflügelt und fanatisiert habe, dass sie sich gegen eine erdrückende Übermacht US-amerikanischer Truppen behaupten konnten.
Dieser „Teufelstrompete“ wird nachgesagt, Menschen zu fanatischem Nationalismus und Vaterlandsliebe zu bewegen. Sie wäre ideales Objekt also für ultranationale Kreise, die nun auch mit Macht und Gewalt an die Trompete zu kommen gedenken.
Yamamine Kenji ist ein eher linke Autor und will unbedingt verhindern, dass die Trompete in falsche Hände gerät. Während einer Recherchereise spürt er das Instrument auf den Philippinen auf und lernt dort die Vietnamesin Anh kennen und lieben. Sie folgt ihm nach Japan und kommt bei einer Demonstration unglücklich ums Leben. Die Trauer um Anh begleitet Yamamine bei seiner Flucht vor den ihn und die Trompete verfolgenden ominösen Gruppen. Da ist zum Beispiel die ultranationale Q-Sekte. Und in welchem Auftrag verfolgt ihn der grausame B.? Das ganze bleibt ein gutes Stück nebulös, rätselhaft und undurchsichtig.

Tatsächlich ist diese Verfolgungs- und Fluchtgeschichte auch eher der schwächere Part der von Fuminori Nakamura episch aufgespannten Geschichte, die um viele Themen kreist und sich in zahlreichen Anekdoten (fast) verliert. Rechtsruck, erstarkender Nationalismus, Populismus in den sozialen Medien, Fremdenfeindlichkeit und eine zunehmend repressive Atmosphäre beklagt der japanische Journalist. Das ist uns nicht allzu fremd.Völkischer Nationalismus, der Vietnamkrieg, die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki, die Christenverfolgung in Japan bis ins 19. Jahrhundert, Kritik am Gute-Welt-Glauben – Nakamura spricht viele Themen an. Das macht den Roman nicht unbedingt sehr leicht konsumierbar, ist aber höchst interessant.

Ich bin ihm jedenfalls über viele der insgesamt 582 Seiten sehr gebannt gefolgt und war gegenüber der eigentlichen Thrillerhandlung und der Liebesgeschichte mit Anh fast ein wenig ungeduldig. Für meinen Geschmack zu oft ergeht sich der Autor zudem in allzu minutiösen Schilderungen von Folter und Grausamkeiten. Da hätte gern ein wenig gekürzt werden können. Die Flucht ist ein komplexer, nicht immer leicht zu durchschauender Roman. Manches darf hier nebulös bleiben, sogar nicht überzeugen. Eine spannende, kurzweilige und interessante Lektüre ist es allemal.

 

Margaret Atwood, Douglas Preston - Vierzehn TageMargaret Atwood und Douglas Preston (Hrsg.) – Vierzehn Tage

Ein Gemeinschaftsroman, initiiert von Margaret Atwood und Douglas Preston, der auch die Rahmenhandlung für die Geschichten verfasst hat. 36 sehr diverse Autor:innen aus den USA und Kanada, die über die Anfangszeit der Coronapandemie in New York schreiben, über die Ungewissheit, die vielen Toten, den Lockdown, die Angst und Ratlosigkeit. Als klassisches Vorbild: Boccaccios Decamerone aus dem 14. Jahrhundert. Kann das funktionieren?
Erstaunlich gut. Die Stories, die sich die Bewohner eines heruntergekommenen Mietshauses in der Lower Eastside jeden Abend nach dem täglichen Feiern der Rettungskräfte und des Pflegepersonals erzählen, sind natürlich nicht alle gleich fesselnd. Die einen sprechen mehr an als andere. Insgesamt und mit der Pointe am Schluss geben sie aber ein gutes Abbild der New Yorker Gesellschaft und sind ein unterhaltsamer Rückblick auf eine Zeit, die gar nicht so weit zurückliegt, aber schon ganz schön irreal wirkt

 

moussa abadi-der KalligraphMoussa Abadi – Die Königin und der Kalligraph

Es war einmal eine Stadt, in der Muslime, Juden und Christen friedlich zusammenlebten. Nicht konfliktfrei, jeder in seinem eigenen Dunstkreis, aber doch mit einem gewissen Respekt und vor allem Toleranz vor dem anderen. Es war einmal das Damaskus der Kindheit von Moussa Abadi, 1910 dort geborener Autor des autobiografischen Werks Die Königin und der Kalligraph, und auch ein Stück weit das des 1946 geborenen Schriftstellers Rafik Schami, der zu eben jenem Werk, das gerade in der Übersetzung von Gerhard Meier bei Manesse erschienen ist, ein ausführliches Nachwort beigesteuert hat. In locker verwebten Geschichten schreibt Moussa Abadi in Die Königin und der Kalligraph über die Menschen, die in den 1920er Jahren sein Viertel bewohnten.

Das öffentliche Leben fand auf den Gassen statt. Armut, religiöses Leben. Bettler, Kaufleute und Beamte bevölkern es, fleißige Handwerker und Tagediebe, Schlitzohren und Familienväter, Mütter und tratschende Nachbarinnen. Tragödien und Komödien, manchmal dicht beieinander. Wie meist bei solchen Rückblicken wird wohl so manches durch den nostalgischen Schleier und das vorgerückte Alter des Erinnernden ein wenig verklärt sein. Aber dennoch wird deutlich, dass ein Miteinander damals möglich war. Dadurch gibt das Buch auch gerade in der heutigen Situation Hoffnung und erscheint ein wenig wie eine Utopie.

 

Uwe Wittstock - Marseille 1940Uwe Wittstock – Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur

Mein Monatshighlight. Ein erzählendes Sachbuch der Extraklasse. So wird historisches Wissen unterhaltsam und spannend vermittelt.

Nach der Besetzung Frankreichs im Juni 1940 durch die deutsche Wehrmacht begann für viele der dorthin vor den Nationalsozialisten geflüchteten kritischen und jüdischen Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern eine erneute Flucht. Spätestens seit dem Fall von Paris konzentrierten sich die Verfolgten auf den unbesetzten Südteil des Landes und dort vor allem auf Marseille als größte Stadt und Sitz vieler Konsulate, die die erhofften und ersehnten Visa ausstellen konnten. Mit der Vichy-Regierung unter Marschall Petain, die mit dem Deutschen Reich kollaborierte, wurde die Lage brenzlig. Das US-amerikanische Emergency Rescue Committee (ERC) unter Varian Fry konnte über 2000 Menschen, vor allem Kulturschaffende, aber auch politisch Verfolgte aus Frankreich retten, darunter so bekannte wie Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Franz Werfel, Hannah Arendt und Anna Seghers. Mit ständig wechselndem Fokus auf die verschiedenen Personen, als Glutkern Varian Fry und seine Mitarbeiter:innen, erzählt Uwe Wittstock so spannend, als handele es sich um einen Roman.

 

 

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